Vor 100 Jahren wurde Oberrabbiner József Schweitzer geboren
Erinnerung an einen Brückenbauer
Es hat mich nicht interessiert, wer welcher Religion angehört. Jedes Jahr besuchte ich im Dezember als Universitätsdozent mit meinen Gruppen die Weihnachtskrippe in der Kathedrale von Pécs, später auch die Universitätskirche in Budapest. In den 60er Jahren hörte ich Dezső Ernster in der Synagoge von Pécs singen. Er sang zusammen mit dem Kantor wunderschön, danach folgte von eine Predigt. Rabbiner József Schweitzer war ein angesehener Bürger der Stadt Pécs.
Am 20. August 1968 marschierten die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein, weil der Sozialismus mit Menschengesicht nicht ins Bild passte. Wir wussten nicht, was auf uns zukommen würde. Die gedrückte Stimmung wollte sich nicht bessern.
Unsere Hochschullehrer, die uns Ende August prüften, sahen das genauso. Am 14. September 1968 erhielt ich mein Mediziner-Diplom. Ich war gerührt und dachte während des hippokratischen Eids daran, wie viel ich meinen Eltern verdanke: mein Studium, meine Aufenthalte in der DDR, meine Famulaturen und wie ernst ich meinen Arztberuf nehmen würde.
Zufällig begegnete ich dem Rabbiner Schweitzer
Am nächsten Tag, am 15. September feierte die evangelische Gemeinde A.B. von Pécs ihr 100-jähriges Bestehen. Die Kirche war voll. Auf die Predigt von Pfarrer Zoltán Balikó folgte ein Vortrag von Béla Szilágyi, dem Presbyter, über die Geschichte der Gemeinde. Dann, zwischen den Grußworten der verschiedenen Kirchenvertreter, meldete sich Rabbiner Schweitzer zu Wort.
Eine Geschichte war die Grundlage für seine Begrüßungsworte, in der der Lateinlehrer seinen Schülern folgende Aufgabe stellte: „Wer kann diesen Satz richtig übersetzen: ‘Unus es Deus’?” Irgendwie kam die richtige Übersetzung nicht zustande. Aber die Tür öffnete sich und die Zuhörer, die die Anmeldegebühr bezahlt hatten, wurden in das erste Jahr der Schule aufgenommen und hörten die richtige Übersetzung. Der Junge, der nicht in die Klasse aufgenommen worden war, der kleine Ferenc Móra (der spätere Schriftsteller) sagte mit strahlendem Gesicht: „Herr Lehrer, Es gibt nur einen Gott!“
Diese Geschichte hat die Gemeinde aufgerüttelt und mir viel bedeutet, dieser Satz hat mich mein Leben lang begleitet. Am 16. September wurde ich zum sechsmonatigen Militärdienst in Budapest eingezogen und leistete anschließend Dienst in Bratislava und Prag. Am 15. März 1969 wurde ich zum Assistenzarzt am Institut für Pathologie der Medizinischen Fakultät der Universität Pécs ernannt. Ich habe viel von Professor György Romhányi gelernt. Er war eine herausragende Persönlichkeit.
„Sie sind ein Universitätsmensch!“
Neben den täglichen Autopsien und Histologien betreute ich zwei Unterrichtsgruppen. Sie gehörten jedes Jahr zu den besten. Nach der Facharztprüfung stellte sich mir die Frage: „Wie geht es weiter?“ Professor Miklós Melczer, Mitglied der Prüfungskommission, gab mir die Antwort: „Bewerben Sie sich an Universitätsinstituten, Sie sind ein Universitätsmensch“. Dann habe ich mich im I. Institut für Pathologie der Semmelweis Universität Budapest, um die Stelle des Prosektors beworben.
Ich bin immer noch stolz darauf, dass wir gemeinsam mit Kollegen von verschiedenen Universitäts-Kliniken, mehrere klinische Probleme gelöst haben. Ab 1974 verbrachte ich jedes Jahr ein bis zwei Monate in Jena am Institut für Anatomie bei Prof. Dr. Günther Geyer. Es ging um die gemeinsame Arbeit am „Membranprojekt“ und die Vorbereitung meiner Habilitation.
Sonntags konnte ich in Weimar das Altarbild von Lucas Cranach in der Herder-Kirche, das Orgelspiel von Professor Johannes Köhler, die Bauhaus-Universität, das Goethe- und das Schiller-Museum und das Schloss Belvedere bewundern und sogar Dürrenmatts Satire („Der Besuch der alten Dame“) mit Lotte Lenya sehen. Jedes Mal berichtete ich József Schweitzer von diesen Reisen, der inzwischen nach Budapest berufen war.
Zwischen 1974 und 1982 besuchte ich in jüdischer Tradition jedes Jahr das Lager Buchenwald mit einem Stein. Meine Freunde und ich kämpften jahrelang für die Anbringung einer Gedenktafel am Bahnhof Jena West, von dem aus die Züge in das nahe gelegene Vernichtungslager Buchenwald abgefahren waren (vorwiegend mit ungarischen Juden).
„Wie konnte es passieren?“
Einige Jahre später nahm ich mehrmals Kontakt zu József Schweitzer auf. Er empfing mich immer mit großer Zuneigung und erzählte mir viel über die Ereignisse von 1944/45, über sein eigenes Schicksal, über die Gründung des Staates Israel und die Pogrome in Russland. Ich hörte mir mehrere seiner Predigten in der Synagoge in der Dohány utca an.

Nach meiner Habilitation zog ich 1983 mit meiner Familie in die Bundesrepublik. Meine Beziehung zu József Schweitzer wurde jedoch nicht abgebrochen. Ab 1989 besuchte ich ihn wieder regelmäßig in der Rabbinerschule oder in seiner Wohnung am Károly körút. Es waren jedes Mal geistig sehr inspirierende Gespräche. Ein oder zweimal stellte er mir Fragen zu seiner Krankheit. Der Holocaust war immer ein Gesprächsthema. „Wie konnte es passieren?“
Er war der erste, der mir 1993 zunächst schriftlich und dann mündlich zu meiner Berufung als Gast-Professor an die Dr. Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg gratulierte.
Eines unserer Treffen fand am 25. Oktober 2009 in Budapest statt, anlässlich der Enthüllung des Gábor-Sztrehlo-Denkmals auf dem Deák tér. Das Werk wurde von dem Bildhauer György Markolt geschaffen und von den Steinmetzen von der Firma Weiss und Kutas (Budapest) realisiert. Der Schöpfer der Skulptur erwähnte: „Ich möchte, dass die Menschen die Skulptur sehen und sich echten Werten zuwenden. In der heutigen Welt muss den Menschen bewusst gemacht werden, was während des Zweiten Weltkriegs geschah und wie schrecklich der Holocaust war. Wir wollen sie zum Nachdenken anregen und ihnen nicht einfach nur etwas vorsetzen“. Bei der Gedenkfeier sprach ich mit Oberrabbiner József Schweitzer über den Pfarrer Gábor Sztehlo, dem es gelang, unter unmenschlichen Bedingungen trotzdem ein Mensch zu bleiben.
„Man kann immer helfen“
Im Jahr 2011 veranstaltete die jüdische Gemeinde in meiner Heimatstadt Nagykanizsa, zum Teil auf meine Anregung hin, eine Gedenkfeier für Lipót Löw anlässlich seines 200. Geburtstages. Martin Bubers Motto „Man kann immer helfen“ wurde zum Motto der Gedenkveranstaltung. Man informierte ihn über meinen Vortrag, und er beglückwünschte mich dazu.
Im Jahr 2012 sprachen einige der Redner im Rahmen der Gedenkveranstaltung „Die Familie Makoviczky in Nagykanizsa“ über die Unterstützung meines Großvaters für Mátyás Stein in den Jahren 1944/45. Die Vorträge wurden in einem Sonderheft des Ungarischen Erdöl- und Erdgasmuseums Zalaegerszeg, 2020, Ausgabe 62, veröffentlicht, herausgegeben von János Tóth, Direktor des Museums.
Seine TV-Diskussionen mit Prof. Dr. E. Szilveszter Vizi, dem ehemaligen Präsidenten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, und Kardinal Péter Erdő bleiben in Erinnerung.
Im Jahr 2012 war Oberrabbiner József Schweitzer zusammen mit dem evangelischen Bischof Tamás Fabiny und dem Prior von Pannonhalma, Asztrik Várszegi, der Hauptschirmherr der Ausstellung über den jüdischen Maler und Märtyrer Imre Ámos (1907-1944/45?) in Szentendre.
József Schweitzer war eine herausragende Persönlichkeit des christlich-jüdischen Dialogs. „Der Herr erwartet von Christen und Juden, dass sie sich an die Zehn Gebote halten“, war einer seiner Grundsätze. Dies ist ein großartiger Leitfaden. Und im Buch Moses 3,19 steht das, was wir das Gesetz der Heiligkeit nennen: „Seid heilig, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Herr“.
Die Heiligkeit kann erreicht werden, indem man die „Immitatio Dei“ praktiziert, das heißt, indem man versucht, der Heiligkeit des Herrn gleich zu werden. Lassen wir uns bei all unserem menschlichen Handeln von Gerechtigkeit, Verständnis, Liebe und Fairness leiten. Der Wunsch, den Herrn in unserem Handeln nachzuahmen, führt dazu, dass wir uns einander annähern.
Im Februar 2015 verstarb József Schweitzer, Oberrabbiner im Ruhestand. Er war eine herausragende Persönlichkeit des jüdischen Lebens in Ungarn.
Die Erinnerung an ihn lebt weiter.
Der Autor lehrt u.a. an den Universitäten Heidelberg und Freiburg/i.Br.