Max Nordau (1849–1923)
Der germanophile Kosmopolit
Max Nordau (geboren 1849 in Pest als Simon Maximilian Südfeld, gestorben 1923 in Paris), tätig als Arzt, Journalist und kulturkritischer Essayist, zum zweitbedeutendsten Zionisten neben Theodor Herzl aufgestiegen, wurde mit 34 Jahren über Nacht durch sein kulturkritisches Buch „Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit“ berühmt. Er prägte dann ein Jahrzehnt später mit seinem Hauptwerk „Entartung“ endgültig die Geistes- und Begriffsgeschichte des Fin de siècle. Bis zum Ersten Weltkrieg schrieb er für zahlreiche europäische und nordamerikanische Zeitungen, darunter 35 Jahre lang für die Vossische Zeitung. Seine Werke sind in 17 Sprachen zugänglich, sein Bestseller „Entartung“ erlebte in England innerhalb von nur vier Monaten sieben Auflagen.
Der literarische Metzger
Nordaus Errungenschaft war die Verbindung seiner beiden Betätigungsfelder, denn als Mediziner unternahm er den Versuch, die zeitgenössische Kultur mit den gängigen Mitteln der Psychopathologie zu analysieren. Jedoch erwies sich seine Diagnose als ein kompletter Fehlschlag. Maßgebenden Literaten der Epoche wie Baudelaire, Zola, Verlaine und Tolstoi, aber auch Richard Wagner und Friedrich Nietzsche sprach er das Schaffensvermögen ab und stempelte sie schlichtweg als Geisteskranke und Entartete ab. Wahrscheinlich mag dies der Grund dafür sein, warum Nordau trotz seiner ausgedehnten literarischen Produktion der Vergessenheit anheimgefallen ist und warum ihn Karl Kraus als „literarischen Metzger“ bezeichnete.
Seine Verdienste sind jedoch von literaturhistorischer Bedeutung, denn er gilt als Wegbereiter der modernen Kulturkritik par excellence, so ist seine Wirkung auf seine Nachwelt, wie etwa auf György Lukács, offensichtlich. Angesichts des Nordau’schen Œuvres, in dem neben Prosawerken, Dramen, Briefen, medizinischen und zionistischen Schriften eher die kulturkritischen Werke überwiegen, wird deutlich, dass es sich bei ihm um einen Kulturkritiker von Nietzsches’ Format und einen führenden Intellektuellen im Europa der Jahrhundertwende handelt.
Lehrjahre
Nordau, als Sohn einer orthodoxen jüdischen Familie in Pest geboren, gehörte zu denjenigen, die sich erst, nachdem sie diese Stadt verlassen hatten, in der deutschen Literatur und Wissenschaft einen Namen machten. Im aufgeklärten jüdischen Milieu von Pest galt Deutsch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als die dominierende und vorbildhafte Kultur- und Wissenschaftssprache, erst nach 1861 setzte die ungarische Nationalbewegung Ungarisch als Schul- und Behördensprache durch.
Nordau erfuhr diesen Wechsel des sprachlichen und kulturellen Paradigmas am eigenen Leib: Durch die stetige Magyarisierung des öffentlichen Lebens geriet er, wie alle von der Goethe-Kultur überzeugten deutschsprachigen Schüler und Bildungsbürger, soziokulturell und später auch beruflich in die Defensive und Isolation. So ging Nordau ins Ausland und wurde in Paris als deutschsprachiger Zeitungskorrespondent und Essayist berühmt. Angelegt war dieser Erfolg im Exil allerdings bereits in der frühen Entscheidung für den Besuch deutschsprachiger Schulen in Pest und in seinem entschiedenen Widerwillen gegen die Magyarisierung.
Nordaus Vater, der aus Krotoschin (Posen) zugewanderte Gabriel Südfeld, war ein streng religiöser Jude, ein Rabbiner, seine Mutter stammte aus Riga. Nordau und seine zwei Jahre jüngere Schwester Charlotte („Lotti“) hatten väterlicherseits vier Halbgeschwister, die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen. Der kleine Südfeld – Nordau kam als Simon Maximilian Südfeld zur Welt – soll schon recht früh in der jüdischen Schule die Grundlagen des Lesens und Schreibens erlernt haben. Im August 1859 kam Nordau auf das katholische Gymnasium von Pest, seine Schulzeit beendete er schließlich bei den Kalvinisten.
Der angehende Journalist
Im Jahre 1867 bestand Nordau die Matura und begann in Pest sein Medizinstudium. Hinsichtlich der Entscheidung für ein Medizinstudium gibt es nur Vermutungen, konkrete Äußerungen von ihm selbst liegen nicht vor. Fest steht jedoch, dass bei den Juden infolge ihrer Mehrsprachigkeit die traditionelle Bildung stets im Vordergrund stand, doch wurde auch der weltlichen Bildung eine große Bedeutung beigemessen, die vor allem eine Orientierung nach den geistig höhergestellten Berufen mit sich brachte. Zu diesen gehörte unter anderen der Beruf des Arztes, der vielerorts als jüdischer Beruf par excellence angesehen wurde.
Wanderjahre
Parallel zum Studium war Nordau bereits seit 1867 für die damals renommierteste deutschsprachige Zeitung Ungarns, für den Pester Lloyd tätig. Ab dem Frühjahr 1873 weilte Nordau im Auftrag dieser Zeitung, und zwar als deren Korrespondent für die Weltausstellung, in Wien.
In dieser Zeit entfaltete sich ein reger Briefwechsel zwischen ihm und seiner Schwester Lotti. Nordau bezeichnet in diesen Briefen das Pester Blatt als „Provinzblatt”, das im mondänen Wien nie Furore machen wird. Die ungarische Hauptstadt tut er als „Provinzstadt” ab, die für ihn keine Bleibe mehr sichert. Einige Monate später nahm er nicht einmal das Angebot der von ihm so sehr respektierten Neuen Freien Presse an, als deren Pester Korrespondent tätig zu werden.
Ende des Jahres bereiste er Deutschland und den europäischen Norden. Ab April 1874 befand er sich auf einer Bildungsreise. Die Route lässt sich auch anhand seiner Feuilletons aus dieser Zeit ablesen: Petersburg, Moskau, Berlin, England, Island und Frankreich. Die Eindrücke dieser bewegten Jahre finden auch ihren Niederschlag in Nordaus Buch Vom Kreml zur Alhambra.
Ende 1875 kehrte Nordau nach Pest zurück und brachte seine Abschlussprüfungen erfolgreich hinter sich. Einige Wochen später, am 31. Januar, kam es zum Bruch mit dem Pester Lloyd. Zwei Tage darauf war Nordau für das Neue Pester Journal tätig. Jedoch schien ihm Pest auf Dauer keine Bleibe zu sein: Am 1. Mai 1876 brach er nach Paris auf, mit von der Partie waren seine Mutter und Schwester. Dort war er teils als praktischer Arzt tätig, teils schrieb er für mehrere Blätter. Seinem neuen Blatt in Ungarn schickte er zahlreiche Pariser Sittengemälde. Viele davon kamen in seinem Werk „Paris – Studien und Bilder aus dem wahren Milliardenlande“ erneut zum Abdruck.
Wahlheimat Paris
Dieser erste Pariser Aufenthalt währte bis 1878, dann kehrte die Familie nach Pest zurück, wo Nordau als Geburtshelfer und Frauenarzt praktizierte. 1880 erfolgte jedoch die endgültige Übersiedlung nach Paris. Hinsichtlich der Beweggründe können nur Vermutungen angestellt werden. Mit Sicherheit spielten die Arbeitsmöglichkeiten für einen freischaffenden Journalisten in der französischen Hauptstadt sowie der internationale Ruf der Pariser medizinischen Fakultät eine Rolle.
In Paris verteidigte Nordau seine Doktorarbeit, im September 1882 eröffnete er eine eigene Praxis als Frauenarzt und Geburtshelfer. Nordau hatte sich auch als Pariser Korrespondent der Vossischen Zeitung etabliert. Pest besuchte er, so weit bekannt, erst im 20. Jahrhundert als aktiver Zionist und Redner wieder.
Ausblick: Nordaus „Nachsommer”
Im Jahre 1891 verlor Nordau sein durch schriftstellerische Arbeit erworbenes Vermögen durch Börsenspekulation. Schicksalsträchtig erwies sich vor allem das Jahr 1892: Nordau lernte den Paris-Korrespondenten der Neuen Freien Presse, den ebenfalls ungarische Wurzeln aufweisenden Theodor Herzl (1860-1904) kennen. Sodann wurde er Hausarzt seiner Familie. Infolge des steigenden Antisemitismus wurde Nordau von Herzl vom Gedanken und der Notwendigkeit eines Judenstaates überzeugt. 1897 waren sie bereits Mitstreiter dieser Idee auf dem ersten Zionistenkongress in Basel.

Den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte Nordau in Paris, konnte aber samt Familie nach Spanien fliehen. Sein Vermögen in Frankreich wurde jedoch gänzlich konfisziert. Auch die Arbeit für die Vossische Zeitung musste nach 35 Jahren eingestellt werden, da das Organ in den Besitz des Ullstein Verlags übergegangen war. Während der Kriegsjahre verdiente Nordau seinen Lebensunterhalt durch Artikel für diverse Zeitungen in Italien, Nordamerika und Argentinien. In Paris konnte er sich dank der Vermittlung des griechischen Ministerpräsidenten Venizelos erst 1920 wieder niederlassen. Sein Herzleiden verstärkte sich aber immer mehr, bis er ihm im Januar 1923 erlag. Sein Sarg wurde 1926 nach Tel Aviv überführt.
