Wir treffen Sigrid Réti im Café der Ungarischen Staatsoper. Auch hier wurden Szenen für den Film „Mephisto“ gedreht. (Fotos: BZT / Nóra Halász)

Menschen in Budapest: Sigrid Réti

„Das war ja oscarreif!“

Wir alle hoffen, dass uns das Leben mit Erfahrungen und Erlebnissen segnet, die es wert sind, sie einmal mit unseren Nachkommen zu teilen. Wenn Sigrid Réti heute ihren Enkelkindern von früher erzählt, dann spielen ihre Anekdoten nicht nur in verschiedensten Ländern unseres Kontinents sowie zwischen zwei politischen Systemen, sondern es fallen darin auch berühmte Namen wie István Szabó, Rolf Hoppe oder Klaus Maria Brandauer. Wie die im verschlafenen Erzgebirge geborene Ex-DDR-Bürgerin dazu kommt, erzählt sie im Gespräch mit der Budapester Zeitung.

Sigrid Réti zeigt auf eine alte Schwarz-Weiß-Broschüre. Darauf zu sehen ist ein junger Klaus Maria Brandauer in seiner Rolle als Hendrik Höfgen in der Verfilmung des Klaus Mann-Buches „Mephisto“. Er gestikuliert, den Hamlet in der Hand, seine ganze Körperhaltung verrät innere Anspannung. Es handelt sich nicht etwa um ein Standbild aus dem 1981 erschienenen Film, sondern um eine Momentaufnahme vom Drehort. Sigrid Réti, die nicht nur die Wohnung, in der gedreht wurde, zur Verfügung stellte, sondern damals auch die gesamten Dreharbeiten begleitete, kann sich noch gut an die Situation erinnern. „Das war die berühmte Szene in unserem Zimmer, dort am Fenster, da hatte der Brandauer es so richtig satt. Ich weiß noch, er hat mich angeguckt und gesagt: ‚Sigi, sag du doch mal was.‘ Nach der nächsten Klappe ist es mir dann rausgerutscht – ‚Das war ja jetzt oscarreif‘.“ Unter den abergläubigen Filmleuten am Set sorgte Sigrid Rétis vorlaute Aussage für einen kleinen Skandal, doch ihre Worte sollten sich als prophetisch erweisen, nur wenige Monate später, 1982 wurde „Mephisto“ als erster ungarischer Film überhaupt in Los Angeles mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet.

Doch gehen wir noch ein Stückchen zurück. Für die Budapester Zeitung erzählt Sigrid Réti, wie es überhaupt dazu gekommen war, dass die ehemalige DDR-Bürgerin Teil des Produktionsteams hinter der weltberühmten Verfilmung von Regisseur István Szabó wurde. Wir verraten vorab so viel: Das Schicksal hatte mit mehr als nur einem Zufall seine Finger im Spiel.

Die ungarische Sprache

Aufgewachsen ist Sigrid Réti im sächsischen Bernsbach, einem malerischen Dörfchen, das auch der „Balkon des Erzgebirges“ genannt wird. Ihr Vater war Produktionsleiter einer Waschmaschinenfabrik im nahegelegenen Schwarzenberg. „Dort stellte man die Geräte für den westdeutschen Versandhändler Quelle her“, erinnert sich Réti. „Dafür benötigte man auch elektronische Programmschalter, die es jedoch in der DDR nicht gab, in Ungarn aber schon.“

Mit ihrem Vater, der daher häufig nach Budapest reiste, kam sie das erste Mal in die ungarische Hauptstadt. „Damals besuchte ich die zehnte Klasse der Oberschule in Aue. Der Chef der ungarischen Firma hatte eine Tochter, die sollte nach dem Abitur Germanistik studieren. Da wurde ausgemacht, dass sie zu uns nach Deutschland kommt.“ Die beiden Mädchen, die gerade einmal ein Altersunterschied von einem Jahr trennt, wurden schnell gute Freunde und Sigrid Réti kam so erstmals intensiver in den Kontakt mit der ungarischen Sprache: „Ich habe dann angefangen, selbst Ungarisch zu lernen. Es ging ziemlich schnell – so drei, vier Monate“, erzählt Réti. „Für mich ist Ungarisch eine ziemlich logische und einfache Sprache.“

Dass das nicht jedem so geht, merkte die enthusiastische Sprachlernerin erst, als sie sich mit dem Wunsch ihre große Zuneigung zur ungarischen Sprache auch in berufliche Bahnen zu lenken, an die finnisch-ugrische Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin wendet. „Damals war Professor Béla Szentiványi Leiter des Lehrstuhls. Als er hörte, wie schnell ich Ungarisch gelernt habe, sagte er, sowas sei ihm ja noch nie untergekommen“, erinnert sich Sigrid Réti schmunzelnd.

(Foto: BZT / Nóra Halász)

Doch der gewünschte Studiengang startete nur jedes zweite Jahr. Um das Jahr zwischen Schule und Universität sinnvoll zu überbrücken, bot Szentiványi der Abiturientin an, ihr einen Platz im Internationalen Vorbereitungsinstitut (NEI) in Budapest zu besorgen. Da wurden ausländischen Studierenden Ungarisch beigebracht, damit sie danach an einer ungarischen Universität studieren konnten. So kam es, dass Sigrid Réti, nur zwei Tage nach ihrem Abitur, die DDR in Richtung Ungarn verließ.

Auslandsstudium in Zeiten des Kalten Krieges

Hier studierte die junge Frau in einem für damalige Verhältnisse ungewöhnlich internationalen Umfeld: „Wir waren zwölf Leute in unserer Klasse, darunter die Töchter der tschechoslowakischen und polnischen Botschafter, fünf Kubanerinnen, eine Französin und drei Vietnamesen – einer davon wurde später sogar Botschafter in Budapest.“ Die Zeit im wesentlich freizügigeren Ungarn genoss Sigrid Réti sehr, weshalb sie sich nach ihrem Abschluss und dem Ablegen einer Dolmetscherprüfung in Leipzig dafür entschied, sich für ein Studium an einer Budapester Universität in einzuschreiben.

Doch ganz so einfach gestaltete sich das Studieren im Ausland zu Zeiten des Kalten Krieges auch für Sigrid Réti nicht. Von den DDR-Behörden unter Druck gesetzt, fing sie zunächst als Dolmetscherin in der DDR-Botschaft in Budapest an. „Es war ein angespanntes Klima, ich musste mich erst einmal daran gewöhnen, dass jeder mit ‚Genosse‘ angesprochen wird. Dann wollten sie mich auch noch zum Studium nach Moskau schicken. Mir war schnell klar, nach Budapest werde ich das im Leben nicht aushalten.“

Doch schon wenig später wendete sich das Blatt: Sigrid Réti heiratet – und zwar einen Ungarn. Dadurch konnte und musste sie ihre Tätigkeit an der Botschaft aufgeben. Sie nimmt die ungarische Staatsbürgerschaft an, verliert aber im Gegenzug ihre DDR-Staatsbürgerschaft. Vorübergehend lebte sie mit ihrem Mann in Frankreich, wo auch ihre beiden Töchter geboren werden. Als sie nach Budapest zurückkehrt, arbeitet Réti, die mittlerweile auch einen Abschluss in Jura erworben hat, als Übersetzerin für juristische Texte, aber auch für Bücher und Drehbücher.

„Wir wollen, dass Sie hier arbeiten“

Wie es Réti dann irgendwann zum Film verschlug? Auch daran kann sich die heute 70-Jährige noch genau erinnern: „Nicht weit von meiner Wohnung gab es auf der Andrássy út den ‚Club junger Künstler‘, heute befindet sich dort das Kogárt-Haus, dort bin ich früher öfter hingegangen und habe auch viele Leute kennengelernt.“ Darunter waren auch Studenten der hiesigen Filmhochschule. „Einige von denen haben dann ihren Diplomfilm bei mir in der Wohnung gedreht, zum Beispiel Nyika Jancsó, der Sohn vom Miklós Jancsó (Anm.: ungarische Regielegende)“, strahlt Réti. Auch nahm die Mutter zweier Kinder bereits damals immer wieder Aufträge für die Übersetzung ungarischer Drehbücher ins Deutsche an. „Das war damals Gang und Gebe, man versuchte Ko-Produktionen mit deutschen, österreichischen oder schweizerischen Produzenten in die Wege zu leiten, um das nötige Kapital zu sammeln, dafür brauchte man deutsche Drehbücher. Ich habe damals sogar für Größen wie Miklós Jancsó, Péter Bacsó und Károly Makk übersetzt.“

„Es war eine tolle Zeit“ – Sigrid Réti mit ihren beiden Töchtern beim Dreh in der eigenen Wohnung. (Foto: Privatarchiv)

Doch eines Tages erhielt Sigrid Réti einen Anruf, der sie tiefer ins Filmbusiness hineinziehen sollte, als sie je für möglich hielt. „Die Produktionsleitung von ‚Mephisto‘ rief an und es hieß, dass der Herr István Szabó und der Herr Manfred Durniok mich besuchen wollten.“ Man hatte die Wohnung der jungen Mutter als möglichen Drehort für einige Szenen des Filmes auserkoren. „Die kannten meine Wohnung wahrscheinlich aus Aufnahmen in einem der Diplomfilme“, vermutet Sigrid Réti.

István Szabó war damals bereits ein über die Grenzen Ungarns hinaus bekannter Regisseur und auch der westdeutsche Filmproduzent Manfred Durniok hatte sich bereits in den 60ern einen Namen gemacht. „Ich habe den beiden dann also die Wohnung gezeigt, das war an einem Freitagabend, und am Montag erhalte ich einen Anruf, ich solle mich doch bitte im Produktionsbüro melden. Ich dachte, okay, die wollen die Verträge über die Nutzung der Wohnung machen.“

Doch bei Mafilm, das ungarische Filmstudio, das an der Produktion von „Mephisto“ beteiligt war, hatte man andere Pläne für Sigrid Réti. Auf Vorschlag Manfred Durnioks sollte sie als deutschsprachige Assistentin die Vorbereitungen sowie die Dreharbeiten begleiten. „Ich sagte denen: ‚Wie stellen Sie sich das denn vor, ich habe eine Arbeitsstelle.‘ Da sagen die zu mir: ‚Lassen Sie sich dort einfach beurlauben.‘“, erinnert sich Réti und kann sich auch heute ein Lachen nicht verkneifen. Noch am selben Tag fing sie an, für „Mephisto“ zu arbeiten.

„Der hat sonst nie jemanden geduzt“

Die Atmosphäre im Produktionsbüro und am Set hat Réti in bester Erinnerung: „Dort ging es ziemlich zivilisiert zu. Bei bisherigen Dreharbeiten, die ich miterlebt hatte, wurde gebrüllt, geraucht, getrunken und geflucht, aber bei Szabó, da war alles unglaublich geordnet, das war eine ganz andere Atmosphäre.“

Durch ihre rasche Auffassungsgabe und ihr Talent, Lösungen zu erkennen, wo andere Probleme sehen, wurde Sigrid Réti neben Übersetzungsarbeiten schnell auch mit weiteren Aufgaben betraut. „Ich war dort das Mädchen für alles, heute würde man vielleicht Produktionsassistentin sagen.“ Auch im Ansehen des berühmten Filmemachers stieg die junge Frau schnell auf.

„Einmal gab es im Produktionsbüro eine Diskussion, es ging darum, dass István Szabó nach Deutschland fliegen sollte, um Schauspieler zu verpflichten, unter anderem Christine Harbort und Rolf Hoppe –– allerdings gab es ein Problem mit der Reiseplanung.“ Réti, die die Diskussion mitverfolgt hatte, sagte zu sich selbst: „Menschenskinder, macht es doch nicht so kompliziert.“ Kurzerhand unterbreitete sie Regisseur und Produktionsleiter einen Vorschlag, der die Reise zum Erfolg führen sollte. „Fünf Minuten später kamen die beiden dann aus dem Büro heraus und sagten: ‚Wir machen’s wie es die Sigi gesagt hat.‘ Und dann schaut mich der Szabó an und sagt: ‚Und du kommst mit!‘ Da haben mich alle angestarrt, der hat ja sonst nie jemanden geduzt, das war etwas Besonderes.“

Letztlich fuhr Sigrid Réti dann tatsächlich mit nach Deutschland und half nicht zuletzt, den sich bis dahin sträubenden Rolf Hoppe zu überzeugen, die Rolle des Luftwaffengenerals (angelehnt an die historische Figur Hermann Göring) anzunehmen. Auch zu Hauptdarsteller Klaus Maria Brandauer hatte Sigrid Réti ein ausgezeichnetes Verhältnis: „Als Brandauer hier angekommen ist, hat er gemerkt, da gibt es jemanden, der richtig Deutsch spricht. Er hat mich dann beiseite genommen und gesagt: ‚Ich weiß, die bezahlen dich, aber ich bezahl dir auch was und dafür kümmerst du dich nur um mich.‘“ Réti wurde so für Brandauer am Set schnell eine enge Vertraute.

(Foto: BZT / Nóra Halász)

István Szabó hingegen habe, trotz des „Du“, stets eine gewisse Distanz gewahrt. „Er war ein sehr vorsichtiger Mensch, der unnahbar wirkte. Er hat sich auch nicht mit vielen Menschen abgegeben. Gut, später stellte sich heraus, warum er so war. Er hat ja für den ungarischen Geheimdienst Berichte geschrieben.“ Die Aufdeckung von Szabós Agententätigkeit zwischen 1957 und 1963 sorgte 2006 für einen Skandal. Allerdings zeigten sich gerade viele derer, die er bespitzelt haben soll, darunter Künstlerkollegen wie Márta Mészáros und Miklós Jancsó, solidarisch mit dem Regisseur. Auch Sigrid Réti zeigte Verständnis: „Für mich hat das nichts geändert, viele Leute haben es auch damals schon gewusst.“

Hinter den Kulissen

Und so ist ihr István Szabó vor allem durch seine starke Präsenz am Filmset in Erinnerung geblieben: „Es musste immer genau das gemacht werden, was er gesagt hat. Er war nicht direkt streng, aber es hätte sich auch keiner getraut, einen Einwand vorzubringen.“ Dabei habe Szabó nicht einmal die Stimme heben müssen, wenn er seinen Willen durchsetzen wollte, „im Gegenteil, du wusstest, dass er wütend war, wenn er leise wurde.“ Auch von Sigrid Réti, die oft zwischen dem ungarischen Regisseur und den deutschen Schauspielern vermitteln musste, verlangte die Zusammenarbeit viel Fingerspitzengefühl: „Szabó sprach zwar auch Deutsch, aber wenn es länger wurde, dann hat er mich auch manchmal zur Seite genommen und gesagt: ‚Pass mal auf, ich habe folgendes Problem, bring dem Schauspieler das doch mal irgendwie ganz höflich bei.‘“

Insgesamt dauern die Arbeiten an „Mephisto“ ein ganzes Jahr an. Für Sigrid Réti war es der erste Film, an dem sie von Anfang bis Ende mitgewirkt hatte: „Es war eine tolle Zeit“, betont sie immer wieder. Dass es sich bei der Klaus Mann-Verfilmung um einen herausragenden Film handelt, der sicherlich bei einigen Festivals große Erfolge feiern würde, dessen war sich die junge Frau schon während der Dreharbeiten bewusst: „Es war ja auch vom Budget her ein sehr großer Film, deshalb haben, denke ich, nicht nur ich, sondern auch die Produzenten schon irgendwo auf einen Oscar gehofft.“ Dass den Ungarn tatsächlich der Coup gelungen war, erfuhr sie im März 1982 aber erst aus den Zeitungen: „Überrascht war ich darüber aber gar nicht mehr.“

Nach „Mephisto“ ging Sigrid Réti als feste Mitarbeiterin zur internationalen Abteilung der ungarischen Mafilm-Studios. Bis zur Wende war sie dort Pressesprecherin. Danach wechselt sie ins Immobilien-Geschäft. Heute geht Sigrid Réti vor allem ihrem Hobby nach. „Am Plattensee bauen wir auf 14 Hektar Wein an.“ Übrigends hatte Sigrid Réti nicht nur bei „Mephisto“ den richtigen Riecher: Auch dem Filmdebüt „Mein 20. Jahrhundert“ der ungarischen Regisseurin Ildikó Enyedi prophezeite Réti, die auch daran mitarbeitete, eine große Zukunft. Und siehe da – im Mai 1989 wurde der Film mit der „Goldenen Kamera“ in Cannes ausgezeichnet. „Eine Zeit lang nannte man mich die ‚Festivalhexe’“, scherzt Réti, die sich heute allerdings weiterer Vorhersagen enthält. Schade eigentlich, sonst könnten sie uns vielleicht vorab verraten, ob es Ildikó Enyedi, deren Film „Körper und Seele“ in diesem Jahr als ungarischer Kandidat ins Rennen um den „Besten fremdsprachigen Film“ nach Los Angeles gesendet wurde, gelingen wird, für Ungarn den nunmehr dritten Oskar einzufahren. Nach „Mephisto“ ging Sigrid Réti als feste Mitarbeiterin zur internationalen Abteilung der ungarischen Mafilm-Studios. Bis zur Wende war sie dort Pressesprecherin. Danach wechselt sie ins Immobilien-Geschäft. Heute geht Sigrid Réti vor allem ihrem Hobby nach. „Am Plattensee bauen wir auf 14 Hektar Wein an.“ Zu einigen Mitwirkenden von Mephisto steht sie bis heute in Kontakt.

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