100 Jahre Heilsarmee Ungarn
Zum Wohle der Gesellschaft
Wie lange sind Sie schon in Ungarn und was hat Sie dazu bewogen, die Leitung der Heilsarmee hier zu übernehmen?
Christine Staïesse-Blanchard: Der Ruf nach Ungarn zu gehen, erreichte uns überraschend. Zunächst muss man wissen, dass in unserer Organisation die Schweiz, Österreich und Ungarn ein Territorium bilden mit dem Hauptsitz in Bern. Von dort aus sprach man uns im Frühjahr 2021 an, ob wir uns vorstellen könnten, die Regionalleitung in Ungarn zu übernehmen. Unsere spontane Antwort lautete: „Ja, allerdings sprechen wir kein Ungarisch.“ Dennoch waren wir bereit, ein neues berufliches Kapitel aufzuschlagen. Der freundliche Empfang unseres Teams in Budapest hat unsere Entscheidung bestätigt. Jetzt leben und arbeiten wir bereits seit zweieinhalb Jahren hier. Die Zusammenarbeit mit unseren Mitarbeitern ist von großer Herzlichkeit und Offenheit geprägt, trotz aller Sprachbarrieren.
Was waren Ihre Stationen in der Heilsarmee, bevor Sie nach Ungarn kamen?
Michael Staïesse-Blanchard: Ursprünglich kommen wir aus dem französischsprachigen Teil der Schweiz, wo unser Engagement für hilfsbedürftige Menschen in der Heilsarmee vor 30 Jahren begann. In unseren Anfängen haben wir uns um Menschen aus Südamerika gekümmert, die als illegale Einwanderer in Genf lebten. Viele der Immigranten waren aufgrund falscher Vorstellungen von der Schweiz als „Schlaraffenland“ von ihren Familien und von ihren Dörfern geschickt worden und es lastete eine große Verantwortung auf ihren Schultern, der sie nicht gerecht werden konnten. Wir haben diesen Menschen seelischen Beistand geleistet und sie mit Essen versorgt. Obwohl wir nicht im Ausland waren, hatte unsere Arbeit schon damals eine multikulturelle Ausrichtung.
CSB: Wir haben auch versucht, die Einwanderer aus ihrem illegalen Status zurück in das öffentliche System zu bringen. Viele wandten sich an uns, da sie einer kirchlichen Einrichtung vertrauten. In dieser Zeit haben wir gelernt, wie wichtig die Kirche in Südamerika noch ist. Sie spielt nicht nur eine spirituelle, sondern auch eine wichtige gesellschaftliche Rolle in diesen Ländern. Das war unsere „internationale“ Zeit in Genf. Nach elf Jahren sind wir dann wirklich ins Ausland gegangen, nach Wichita, Kansas, in den Vereinigten Staaten. Auch dort haben wir vorwiegend mit der spanisch sprechenden Bevölkerung gearbeitet. Außerdem haben wir das sogenannte „World Service Office“ der Heilsarmee unterstützt, das Spenden für Projekte im Ausland sammelt. Nach vier Jahren ging es dann wieder zurück in die Schweiz, nach Lausanne.
MSB: In Lausanne leiteten wir zwölf Jahre lang soziale und diakonische Projekte. Ich erwarb einen Bachelor-Abschluss in Sozialarbeit und war als Leiter einer Notunterkunft für Obdachlose tätig. Nach einem kurzen Zwischenstopp in einer weiteren Schweizer Stadt folgten wir dem Ruf nach Ungarn.
Was umfasst Ihre tägliche Arbeit? Sind Sie häufig auf Reisen oder überwiegt die Büroarbeit?
MSB: In unserer Rolle als regionale Leiter dreht sich unsere Arbeit hauptsächlich um strategische Planung und Managementaufgaben. Obwohl wir früher gerne im Feld aktiv waren, konzentrieren wir uns heute auf Führungsaufgaben und unterstützen unsere Leiter im Sozialwesen sowie im Pastorat. Das ist auch eine Chance, unsere vielfältigen Erfahrungen einzubringen und unsere Teams, die uns sehr am Herzen liegen, weiterzuentwickeln. Coaching ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Tätigkeit. Wir sehen uns als Mentoren unserer Mitarbeiter und fördern ihre Entwicklung durch regelmäßige Mitarbeitergespräche und die Auswertung ihrer Arbeit.
Können Sie näher auf konkrete Tätigkeiten im Bereich Management eingehen?
CSB: Wir halten regelmäßige Treffen mit unseren Führungskräften ab, in denen wir nicht nur über die Gegenwart sprechen, sondern auch zukunftsorientierte Strategien entwickeln. Unsere Pläne erstrecken sich oft über mehrere Jahre und beinhalten klare Visionen und Ziele. Zum Beispiel die Anschaffung, Renovierung und Einrichtung von neuen Räumlichkeiten sowie deren Integration in die örtliche Nachbarschaft. Außerdem nutzen wir konkrete Kennzahlen, die den Fortschritt unserer täglichen Arbeit messen, beispielsweise den Auslastungsgrad unserer Obdachlosenheime und anderer Betreuungseinrichtungen.
MSB: Unser Ziel ist es, unsere Arbeit hier in Ungarn auf ein solides Fundament zu stellen. Alle unsere Pastoren verfügen über theologische Abschlüsse, die Leiter der sozialen Einrichtungen haben Bachelor- und Masterabschlüsse in Sozialarbeit. Diese fachliche Expertise bildet die Basis unserer Arbeit und ermöglicht einen ausgewogenen Ansatz zwischen Geschäftsplanung und unserem sozialen und spirituellen Auftrag.
In welchem Bereich sehen Sie in der heutigen Zeit einen großen Bedarf an Hilfe?
CSB: Ein besonderes Anliegen ist uns unser Einsatz gegen Menschenhandel, dabei arbeiten wir auf verschiedenen Ebenen. Wir sprechen mit Frauen, die auf der Straße arbeiten, um Brücken zu bauen und Alternativen zu ihrem derzeitigen Leben aufzuzeigen. Erst kürzlich haben wir einen Minibus erworben, in dem wir uns mit den Frauen in einer entspannten Umgebung unterhalten und ihnen eine Tasse Tee oder Kaffee anbieten können. Ein solcher Dienst existiert in Ungarn noch nicht, und wir glauben, dass dies ein großer Schritt im Kampf gegen den Menschenhandel ist. Für Prostituierte, die ihr Leben ändern möchten, bieten wir dann eine Rehabilitationsunterstützung und psychologische Betreuung an.
Die Heilsarmee feiert dieses Jahr ihr 100-jähriges Bestehen in Ungarn. Wie hat die Arbeit damals angefangen?
CSB: Die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs hinterließen auch in Ungarn tiefe Spuren. Alkoholismus war ein schwerwiegendes Problem und es gab sehr viele Obdachlose, darunter auch viele Frauen. Auch die Selbstmordrate war damals erschreckend hoch. Im Jahre 1924 erkannte die Heilsarmee, dass sie in Osteuropa tätig werden sollte. So begann sie, unterstützt durch den Einsatz von Offizieren aus dem Ausland, eine Organisation in Ungarn aufzubauen. Im Jahr 1925 wurde die erste Rettungsstation namens Iszákos in der Práter utca eröffnet. Es wurde aber schnell deutlich, dass darüber hinaus eine Unterkunft benötigt wurde, in der Bedürftige unter menschenwürdigen Bedingungen leben und langfristige Hilfe erhalten können. Im Frühjahr 1926 fand man nur wenige Straßen entfernt, in der Szerdahelyi utca 17, ein geeignetes Objekt für diesen Zweck. Allerdings fehlten die Mittel für den Kauf und den Umbau. In dieser Zeit besuchte Bramwell Booth, der damalige Leiter der Heilsarmee, Ungarn. Er war tief beeindruckt von der hier geleisteten Arbeit und sorgte dafür, dass die finanziellen Mittel vom Londoner Zentrum bereitgestellt wurden. So konnte das neue Obdachlosenheim am 5. Oktober 1926 eröffnet werden.
Gibt es Projekte oder Gebäude, die bis heute überdauert haben?
MSB: Eines der Projekte, das bis heute besteht, ist das 1928 eröffnete Männerheim in der Dobozi utca. Es bot damals Obdach und Hoffnung für 150 Männer und ist das einzige Gebäude, das nach den Enteignungen durch die Kommunisten in den Besitz der Heilsarmee zurückgegeben und 1991 wiedereröffnet werden konnte. Für andere Immobilien, die damals enteignet wurden, bekamen wir nur Ersatzentschädigungen. Das Haus in der Dobozi utca konnte übrigens auch in der kommunistischen Ära seine ursprüngliche Aufgabe beibehalten. In kleinerem Rahmen und unter dem Namen „Arbeiterwohnheim“, da es unter den Kommunisten offiziell keine Obdachlosen gab, bot es weiterhin Unterkunft für Bedürftige. Heute bietet es rund 75 Obdachlosen Unterkunft und ist ein Symbol unserer Beständigkeit und unseres Engagements für die Gemeinschaft in Budapest.
Wie entwickelte sich die Situation im Zweiten Weltkrieg?
CSB: Trotz der Kriegswirren blieb die Heilsarmee in Ungarn aktiv und bot weiterhin ihre Hilfe für bedürftige Menschen an. In anderen Ländern wie Deutschland, Frankreich und den Niederlanden wurde unsere Organisation, aufgrund ihrer britischen Wurzeln als feindlich angesehen und geschlossen. So war es sehr ungewöhnlich, dass wir in Ungarn weiter aktiv sein konnten. Die Arbeit während der Kriegsjahre war von finanzieller und personeller Knappheit geprägt. Dennoch unterhielt die Heilsarmee 30 Hilfszentren in Budapest und anderen Städten, was mehr ist als heute.
Wie ging es dann nach dem Krieg weiter?
MSB: Die kommunistische Führung in Ungarn etablierte eine neue Beziehung zu kirchlichen Einrichtungen. Über den „Rat der freien Kirchen“, dem die Glaubensgemeinschaften beitreten mussten, übte die neue Regierung eine staatliche Kontrolle aus. Viele christliche Gemeinschaften, darunter die Methodisten und Baptisten, fügten sich in diesen Rahmen ein und blieben während der kommunistischen Ära präsent. Die Heilsarmee hingegen lehnte eine solche Einbindung ab und wurde aufgrund ihrer britischen Wurzeln mit besonderer Skepsis betrachtet. Im Jahr 1949 wurde sie schließlich enteignet und für vier Jahrzehnte aus dem Land verbannt. Unseren Offizieren boten wir damals an, ins Ausland zu gehen, um weiterarbeiten zu können. Einige sind dem Aufruf gefolgt, andere sind geblieben und haben sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen, da sie nicht mehr als Pastoren tätig sein durften.
Wann konnte die Heilsarmee ihre Arbeit wieder aufnehmen?
CSB: Im Jahr 1990 nahmen sechs Offiziere, die 1949 geblieben waren und zusammen mit anderen Kirchenmitgliedern die kommunistische Zeit überstanden hatten, die Arbeit wieder auf. Sobald es die Umstände erlaubten, leiteten sie einen Neustart ein. Bereits am 28. April 1990 war die Heilsarmee als erste neue Kirche in Ungarn wieder registriert. In dieser Zeit wurden die Länder Ungarn, Österreich und die Schweiz zu einem Territorium zusammengelegt, um den östlichen Gebieten starke Partner für den Wiederaufbau zur Seite zu stellen. So waren Schweizer Offiziere von Anfang an dabei, um die Arbeit hier zu unterstützen.
Wie hat sich der Wiederaufbau gestaltet und welche Projekte hat die Heilsarmee ins Leben gerufen?
MSB: Auf dem Land lag ein besonderer Fokus auf der Arbeit mit den Roma, die dort teilweise in großer Armut leben. Einige unserer Pastoren sind selbst Roma, was eine enge Beziehung zu dieser Gemeinschaft ermöglicht. In Budapest wurden im 6. und 17. Bezirk Obdachlosenheime gegründet. 1994 erweiterten wir unsere sozialen Aktivitäten auf misshandelte Frauen und deren Kinder. Ein Mutter-Kind-Heim wurde ins Leben gerufen, und drei Jahre später auch ein Rehabilitationsheim für Frauen. 2001 weihten wir im 8. Bezirk ein neues Kirchengebäude ein und eröffneten unsere erste Offiziersschule in Ungarn. 2006 kam eine neue Gemeinde in Gyöngyös hinzu. Heute zählt die Heilsarmee mehrere hundert Mitglieder und unterhält Kirchen und Hilfszentren in Budapest, Miskolc, Gyöngyös und Debrecen. Mittels unserer vier Suppenküchen servieren wir täglich mehr als 500 Mahlzeiten.
Seit 1990 hat die Heilsarmee den Status einer offiziellen Kirche. Ihre sozialen Einrichtungen werden teilweise vom ungarischen Staat finanziell unterstützt.
Was planen Sie zu Ihrem 100. Jubiläum?
CSB: Wir feiern unsere Geschichte hier in Budapest am 25. und 26. Mai mit einem Festwochenende. Die Festlichkeiten beginnen bereits am Freitag, dem 24. Mai, mit der Enthüllung einer Gedenktafel in der Dohány utca 84. Am Samstag findet dann die offizielle Eröffnung am Campus der Eötvös Loránd Universität (ELTE) statt. Ein besonderer Höhepunkt aus unserer Sicht ist die Ernennung von vier neuen Pastoren unserer Gemeinde am Sonntag. Diese Pastoren haben über zwei Jahre hinweg eine Ausbildung absolviert, während sie gleichzeitig im Feld tätig waren und werden nun zu Offizieren der Heilsarmee ernannt. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die militärischen Ränge in unserer Organisation unserer Tradition entstammen. Viel wichtiger als die Ränge ist uns jedoch die Arbeit und die Unterstützung, die diese neuen Pastoren leisten werden.
Welche Projekte gibt es derzeit und wo liegen besondere Herausforderungen?
MSB: Aktuell gibt es eine Vielzahl von Projekten, die sich unterschiedlichen Herausforderungen stellen. Zum Beispiel bieten wir Tagesbetreuungen und Übernachtungsmöglichkeiten an, ebenso wie Rehabilitationprogramme, die mittelfristige Unterstützung leisten. Darüber hinaus organisieren wir Sommercamps für Kinder und Jugendliche.
Ich möchte nochmals das gravierende Problem des Menschenhandels hervorheben, dem wir uns intensiv widmen. In diesem Bereich arbeiten wir in einem Netzwerk aus verschiedenen Organisationen zusammen, zu denen sowohl christliche als auch nicht-christliche Gruppen gehören.
CSB: Ein weiterer Schwerpunkt unserer aktuellen Arbeit liegt auf der Unterstützung von Kriegsopfern aus der Ukraine. Anfangs haben wir, mit Essen und speziellen Angeboten für Kinder, in einem ukrainischen Flüchtlingslager Soforthilfe geleistet. Mittlerweile konzentrieren wir uns hauptsächlich auf den Ungarisch sprechenden Teil der Bevölkerung in der Ukraine, in dem es viele Roma gibt. Der Bedarf ist immens.
Da die Schulen während des Krieges für ein Jahr geschlossen waren, litten besonders Kinder, die auf Schulspeisungen angewiesen sind, an Nahrungsmangel. Im Winter leisteten wir Hilfe mit Decken und Öfen. Aktuell ist zweimal im Monat ein Team von uns vor Ort, um das Hilfsprogramm weiterzuführen. Auch bei diesen Hilfsaktionen arbeiten wir mit Partnern zusammen, so etwa mit der „Hungarian Baptist Aid“ (HBAid) und der „Pentecostal Aid“, die beide bei der Flüchtlingsbetreuung und im Notfallmanagement sehr aktiv sind.
Wie ist die Zusammenarbeit mit den anderen Hilfsorganisationen?
MSB: Es ist ein Teil unserer DNA, mit anderen Organisationen Partnerschaften aufzubauen, um gemeinsam noch besser helfen zu können. Die Probleme sind einfach zu groß und vielschichtig, um sie nur auf sich gestellt anzugehen. Neben Kooperationen bei einzelnen Projekten arbeiten wir in einem festen Netzwerk, bestehend aus fünf kleinen, unabhängigen Kirchen. Wir treffen uns regelmäßig mit den Leitern der Pfingstgemeinde und den Baptisten sowie mit den Methodisten und den Adventisten, um uns auszutauschen und um gemeinsame Hilfsprojekte zu koordinieren.
Wie finanzieren Sie Ihre Projekte? Wie können unsere Leser Ihre Arbeit unterstützen?
MSB: Finanziell werden die Nothilfeprojekte noch sehr stark vom „Salvation Army World Service“ aus den USA getragen. Wir möchten jedoch das lokale Spendenaufkommen erhöhen, um die regulären Projekte besser finanzieren zu können. Dazu bieten wir verschiedene Möglichkeiten auf unserer Website an. Interessenten können dort gezielt Projekte unterstützen oder mittels der „Ein-Prozent-Regel“, die es Steuerzahlern erlaubt, eine kirchliche Gemeinschaft ihrer Wahl mit einem Prozent ihrer Einkommenssteuer zu unterstützen, einen regelmäßigen Beitrag leisten. Wir haben auch eine Stiftung (udvhadseregalapitvany.hu), über die uns Unternehmen einfacher finanziell unterstützen können. Sachspenden nehmen wir ebenfalls gerne entgegen. Jede Form der Unterstützung ist willkommen und trägt dazu bei, dass wir noch besser zum Wohle der Gesellschaft tätig werden können.
Weitere Informationen zur Heilsarmee in Ungarn und zu den Möglichkeiten, ihre Arbeit zu unterstützen, finden Sie hier: udvhadsereg.hu.