„In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die professionelle Qualität der Oper leider nicht sonderlich verbessert, ihr Potenzial wird nicht ausgeschöpft.“ Fotos: Privat

Gespräch mit dem Dirigenten Alpaslan Ertüngealp

Wahrheit und Schönheit

Derzeit bewerben sich elf Personen um die ausgeschriebene Stelle des Generaldirektors der Ungarischen Staatsoper. Einziger internationaler Bewerber ist der Dirigent Alpaslan Ertüngealp, der seit 1987 in Ungarn lebt. Wir unterhielten uns mit ihm über seine Motive und Pläne.

Warum haben Sie sich beworben?

Die Leitung und Verwaltung der Ungarischen Staatsoper ist eine große Herausforderung. Ich beobachte die Aktivitäten der Oper schon seit sehr langer Zeit – ganz genau seit 36 Jahren, also seit dem Beginn meiner Studentenzeit in Budapest. In den letzten Jahren hatte ich die Gelegenheit, mit dem Orchester, Chor und den Gesangssolisten der Oper zu arbeiten. Ich erinnere mich gerne an diese schönen Erfahrungen und angenehmen Erlebnisse. In dieser Zeit wurde mir das professionelle Potenzial des Ensembles bewusst. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die professionelle Qualität der Oper leider nicht sonderlich verbessert, ihr Potenzial wird nicht ausgeschöpft. Als nach der erfolglosen Ausschreibung im letzten Jahr zum zweiten Mal die Stelle des Generaldirektors ausgeschrieben wurde, fühlte ich, dass ich die Chance ergreifen sollte, um der Oper ein ihr würdigeres, professionelleres Profil zu geben.

Wo sehen Sie heute Defizite?

Es gibt viele Probleme im operativen Ablauf des Hauses, sowohl im administrativen als auch im künstlerischen Bereich. Ich kenne diese zum Teil aus eigener Erfahrung und zum Teil durch meine Kollegen. Ich kann hier nicht im Detail auf die Probleme eingehen, aber ganz allgemein kann ich sagen, dass das Haus hinter seinen Konkurrenten in der Region und in Mitteleuropa zurückbleibt. Es ist weder in der Lage, optimal nationale Werte zu exportieren, noch sich international wettbewerbsfähig aufzustellen.

ALPASLAN ERTÜNGEALP ist in Istanbul aufgewachsen, wo er auch die dortige Deutsche Schule besuchte. Seit 1987 lebt er in Budapest. Hier studierte er an der Musikakademie „Franz Liszt“. Mit jeweils summa cum laude schloss er als Pianist und Dirigent ab. In den Folgejahren gewann er mehrere internationale Musikwettbewerbe und war weltweit als Dirigent tätig. 2008 erwarb er die ungarische Staatsbürgerschaft. Von 2011 bis zu dessen Tod 2014 war er beim berühmten italienischen Dirigenten Claudio Abbado der einzige künstlerische Assistent. Er ist mit einer ungarischen Organistin verheiratet und hat mit ihr zwei Kinder. 2023 erwarb er ein Ph.D. in Philosophie. Seine Dissertation widmete er dem Thema „Metaphysik der Musik“. Neben seiner Muttersprache Türkisch spricht er ausgezeichnet Ungarisch, Deutsch, Englisch und Italienisch.

Als das Königliche Ungarische Opernhaus gebaut wurde, konkurrierte Wien als Hauptstadt des Kaiserreichs mit Paris und London. Budapest war zu dieser Zeit noch keine vereinigte Stadt. Eine der Absichten der Vereinigung von Pest-Buda war es, das wirtschaftliche und soziale Niveau von Wien zu erreichen. Damals herrschte im Westen noch die Ansicht vor, dass Budapest und all seine kulturellen Leistungen im „Osten“ zu bleiben hätten. Auch auf die Budapester Oper wurde herabgeschaut. Sie wurde als provinziell abgetan. Dieser Vorstellung gilt es auch heute noch durch kompromisslose Qualität entgegenzutreten.

Wie kommen Sie dazu, sich gerade als Dirigent für diese Position zu bewerben?

Unternehmen, die künstliche Intelligenz entwickeln, engagieren Philosophen. Im Silicon Valley stellen viele Unternehmen Philosophen ein. Ein Philosoph ist, wie in anderen akademischen Bereichen auch, oft auf ein philosophisches Thema, eine philosophische Richtung oder sogar einen Philosophen spezialisiert, verfügt aber immer über ein breites, universelles Wissen, mit Fachkenntnissen in verschiedenen Gedankensystemen, von den alten Griechen bis in die Gegenwart. Seine Herangehensweise an Themen und Probleme ist holistisch. In vielen Fällen behandelt er Probleme nicht nur im hier und jetzt, sondern kontextuell und in ihrer ganzen Historizität.

Der Dirigent ist nicht etwa nur ein „Verkehrsregler“, sondern ein Leiter, ein Anführer und auch eine Inspiration für seine Musiker. Zumindest sollte ein guter Dirigent genau das sein. Der Dirigent kennt und sieht das musikalische Werk in seinem Mikro- und Makrokontext. Aber er kennt auch die Entstehungsgeschichte, die Umstände seiner Entstehung sowie die Umsetzung des musikalischen Werks in der Gegenwart.

Ich verfüge über diese Perspektiven und Fähigkeiten. Darüber hinaus habe ich Erfahrungen in der Leitung von Institutionen. Meine Erfahrung im Bereich der darstellenden Künste stammt aus meiner Zeit als Musikdirektor des Savaria Symphonieorchesters. Meine allgemeinere Erfahrung im Bereich von Kulturinstitutionen stammt aus meiner Zeit als kultureller und künstlerischer Direktor des Grabmals von Gül Baba am Budaer Rosenhügel sowie des Budapester Wagner-Museums. Diese Erfahrungen ergänzen die oben genannten Perspektiven. Mein philosophisches Denken verleiht mir wiederum die Fähigkeit, von außerhalb die gesamte Struktur zu betrachten und zu analysieren.

Ich stamme aus einer multikulturellen Familie, in der wir Weihnachten und Ostern, aber auch muslimische Feste feierten. Der intellektuelle Hintergrund und die intellektuellen Einflüsse waren in meiner Kindheit und später in meiner Schulzeit sehr stark. Aus der deutschen Bildungstradition stammen mein Fleiß und meine Präzision bei der Arbeit. Ich bin kein Idealist, aber ich bin ein Perfektionist. Ich kann langfristig planen, wenn ich geeignete Partner finde. Ich habe eine ganzheitliche Perspektive und auch die Fähigkeit, Details zu analysieren. In meiner Arbeit (ob als Privatperson, Künstler oder Leiter) bringe ich Altes und Neues, Tradition und Zukunftsvision in Einklang. All dies wird in der Gegenwart realisiert und in der Gegenwart vererbt.

Welche Ziele hätten Sie mit der Staatsoper?

Besseres zu schaffen, und das nicht einmal für mehr Geld! Ich setze auf Qualität statt auf Masse. Im letzten Jahrzehnt hat an der Oper jedoch die Masse Überhand genommen, was ganz klar auf Kosten der Qualität ging. Die Oper braucht jedoch qualitativ hochwertige Aufführungen, über die nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland gesprochen wird. Sie braucht professionell ausgewählte Sänger, Musiker, Dirigenten, Regisseure und Choreographen. Junge Talente müssen gefördert werden – zunächst unsere eigenen.

Ihre Fortbildung soll mit der Musikakademie und der Ungarischen Tanzuniversität vernetzt sein. Unsere gut ausgebildeten Musiker sollen zunächst durch ein Ausbildungsprogramm gefördert werden, gefolgt von Auftritts- und Kooperationsmöglichkeiten. Ein Teil der von uns geförderten Musiker wird ins Ausland gehen, und uns dort vertreten und dann hoffentlich zurückkehren.

Wir müssen dafür sorgen, dass wir wieder Stars haben. Wir müssen aber große internationale Namen in angemessenem Rahmen einladen und mit ihnen sogar regelmäßige Kooperationen vereinbaren.

Ein effizienter, zielgerichteter und kostengünstiger Betrieb ist ein absolutes Muss.

Welchen konkreten Schritte würden Sie planen?

Erste Schritte wären: Reorganisation, Strukturänderung, Anschauungsänderung und auch Änderung des Namens. An der operativen Struktur würde ich vorerst wenig ändern, aber wir müssen schrittweise moderner werden. Gustav Mahler ist der Begründer der zeitgenössischen Operntradition. Er selbst war einige Jahre lang sogar Direktor der Budapester Oper. Mahler schuf die Struktur für den Opernbetrieb. Diese ist selbst heute noch die Grundlage für den Betrieb von Opernhäusern. In den 100 Jahren seither wurde diese Struktur lediglich verfeinert.

Eine weitere wichtige Änderung wird die Umbenennung sein. Das Wunder des Architekten Miklós Ybl, das einst unter dem Namen Königliches Ungarisches Opernhaus errichtet wurde, erstrahlt seit seiner kompletten Renovierung wieder in seiner einstigen Pracht. Nun sollte das Gebäude auch seinen ursprünglichen Namen, der ihm in der kommunistischen Ära weggenommen wurde, wieder zurückbekommen. Der alte Name würde das Renommee des Ungarischen Opernhauses zusätzlich erhöhen. Unser Budapester Haus könnte somit in die Liga der sechs königlichen Opernhäuser Europas aufsteigen.

Nach dem Vorbild der meisten europäischen Opernhäuser würde ich weiterhin vorschlagen, die Institution – also nicht das Gebäude – in Ungarische National­oper umzubenennen. Auf diese Weise würden wir unser großes kulturelles Erbe würdigen und deutlich machen, dass hier ungarische kulturelle Werte bewahrt und gepflegt werden. Ungarische Nationaloper an der Königlichen Ungarischen Oper – ein Name, der für sich selbst spricht. Durch die Namensänderungen könnten sich die Mitglieder und Mitarbeiter des Ensembles auch leichter mit dem Vorhaben identifizieren, eine Brücke zwischen nationaler Identität und Internationalität zu schlagen.

Die Ungarische Nationaloper muss, zusammen mit der ungarischen Kultur, und eventuell als ihr Flaggschiff, mit der Region und Europa Schritt halten. Tut sie das nicht, dann wird sie provinziell bleiben. Die Oper der Hauptstadt von Ungarn darf aber kein „provinzielles“ Opernhaus sein! Mit dem Budget, das dem Haus derzeit zur Verfügung steht, könnte die Ungarische Nationaloper ein deutlich höheres Niveau erzielen. Sie könnte Mitglied eines Clubs werden, dem auch mehrere italienische, deutsche und andere Opernhäuser angehören.

Muss man zu diesem Club gehören? Wer legt die Kriterien dafür fest? Wie lässt sich überhaupt der Wert einer Kulturinstitution einschätzen?

Ich selbst suche derzeit nach Antworten auf diese Fragen. Nicht nur mit meinem Team an Verwaltungskandidaten, sondern auch mit einem interdisziplinären, philosophischen Forschungsteam, das ich in den kommenden Tagen bilde. In dieser Forschungsgruppe werden Philosophen, Soziologen, Kunsthistoriker, Kunstphilosophen, Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsphilosophen zusammenarbeiten, um unter anderem eine Methodik zu entwickeln, mit der der Wert einer Kultureinrichtung ermittelt werden kann, um sie dann auch international vergleichbar zu machen.

Ich gründe meine Arbeit auf Wahrheit und Schönheit, auch wenn die Wahrheit oft hässlich ist. Das Schöne ist vielleicht die Verwirklichung der Wahrheit, wie wir es in den Künsten tun.

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