„Ich sehe mich als Interessenvertreter des Ensembles und Bewahrer der traditionellen Werte des Győrer Balletts.“ Foto: GYB / Szilvia Csibi

Interview mit László Velekei, Direktor des weltberühmten Győrer Balletts

Verknüpfung von Tradition und Innovation

Seit nun schon fast vier Jahren leitet László Velekei das Győrer Ballett. Wir unterhielten uns mit ihm über die Situation und die Perspektiven dieses Ensembles.

Wie fühlt es sich an, ein auch weit über die Grenzen Ungarns anerkanntes Ballett zu leiten?

Zunächst einmal ist es für mich eine große Ehre, mit dieser wundervollen Aufgabe betraut zu sein und ein so engagiertes Ensemble leiten zu dürfen. Darüberhinaus ist es natürlich eine riesige Verantwortung sowohl den Mitarbeitern als auch dem Publikum gegenüber. In erster Linie sehe ich mich als Interessenvertreter des Ensembles und Bewahrer der traditionellen Werte des Győrer Balletts. Natürlich ist es auch spannend, in die Fußstapfen von János Kiss, eines so bedeutenden Vorgängers zu treten, der als Gründungsmitglied fast drei Jahrzehnte lang die Geschicke des Balletts leitete und sie wesentlich geprägt hat. Unter seiner Leitung war ich zuletzt künstlerischer Leiter, so wuchs ich praktisch in die Aufgabe hinein, obwohl ich nie vorhatte, Direktor zu werden.

Wie muss man sich die Auswahl eines neuen Ballettintendanten vorstellen?

Träger des Balletts ist die Stadt Győr, alle Mitarbeiter sind somit städtische Angestellte. Die Position des Direktors wird zwar von der Stadtverwaltung ausgeschrieben, bei der Entscheidungsfindung wird aber traditionellerweise die Abstimmung des Ensembles mit in Betracht gezogen. Dies war auch bei meiner Bewerbung der Fall. Für mich war die Meinung der Ensemblemitglieder außerordentlich wichtig, denn das Ballett ist eine große Familie, man muss vertrauensvoll miteinander umgehen, um erfolgreiche, gemeinsame Arbeit leisten zu können. Selbstverständlich fiel auch die Fürsprache meines Vorgängers ins Gewicht, der mich aufgrund unserer mehrjährigen Zusammenarbeit gut kannte und auf meine Erfahrung baute.

Sie selbst waren auch aktiver Tänzer, ist das ein Vorteil?

Im Hinblick auf die künftige Zusammenarbeit ist es auf jeden Fall vorteilhaft. Die aktiven Tänzer akzeptieren einen ehemaligen Tänzer eher als Vorgesetzten, denn sie stehen ihm aufgrund seiner fachlichen und künstlerischen Vergangenheit nahe. Als Choreograph habe ich mit den meisten Mitgliedern der Truppe schon längere Zeit zusammengearbeitet, sodass eine hervorragende Basis für unsere zukünftige gemeinsame Arbeitsbeziehung gegeben war.

Szene aus der scharlachrote Buchstabe.

Der Beginn Ihrer Amtszeit fiel in die Corona-Pandemie, wie haben Sie diese schwierige Zeit gemeistert?

Zunächst waren wir natürlich alle geschockt, dass wir plötzlich ohne Publikum „auf der Bühne” standen. Die Pandemie schien alle unsere Pläne zu durchkreuzen, denn als darstellende Künstler brauchen wir Applaus und Rückmeldung, nur so können wir mit unserem Publikum eine Gemeinschaft ausbauen. Doch relativ bald konnten wir die scheinbare Tatenlosigkeit in Kreativität umkehren, die Schwierigkeiten zu unserem Vorteil wenden, indem wir unsere internen Energien aktivierten. So haben wir während der Corona-Zeit insgesamt neun neue Produktionen auf die Beine gestellt und alle modernen Kanäle und virtuellen Räume genutzt, um unser Publikum zu erreichen. Wir konnten unsere treuesten Fans mittels YouTube-Videos weiterhin begeistern und verfügen mittlerweile über viele Tausend Follower auf Facebook und Instagram.

Hatten die Krisensituationen, wie Pandemie, Ukraine-Krieg, Energiekrise Auswirkungen auf das Ensemble – mussten Sie Mitglieder gehen lassen?

Zum Glück mussten wir uns von keinem einzigen Ensemblemitglied verabschieden, niemand wollte das Ensemble verlassen. Sogar die Tänzerinnen, die Mutter geworden sind, kamen nach der Babypause alle wieder zurück. Das spiegelt den Zusammenhalt der Truppe wider und macht mich ausgesprochen stolz.

Szene aus der GisL.

Wie sieht die Zusammensetzung des Ballettensembles aus?

Wir sind ein international gemischtes Ensemble, von den gegenwärtig 28 Tanzkünstlern stammen neun aus dem Ausland. Mit dem Direktorium, dem Management, allen Mitarbeitern in der Verwaltung, Inspizienten, Kollegen im Fundus, in der Bühnentechnik und am Ticketschalter zählt unsere Mannschaft etwas über 50 Personen. Damit sind wir das zweitgrößte Ballettensemble Ungarns.

Wie steht es mit dem Nachwuchs, gibt es Probleme bei der Nachfolge?

Nein, zum Glück haben wir keine Nachwuchsprobleme. Zuletzt hatten wir eine rekordverdächtige Anzahl von 500 Bewerbern auf eine freie Stelle. Trotzdem bemühen wir uns intensiv um Nachwuchs. Wir arbeiten eng mit der Győrer Kunst- und Ballettschule zusammen, darüber hinaus haben wir strategische Kooperationsvereinbarungen mit der Ungarischen Universität für Tanzkunst Budapest und der Kunstfakultät der István-Széchenyi-Universität Győr abgeschlossen, vornehmlich mit dem Ziel, die Verknüpfung von Ausbildung und Beruf zu ermöglichen.

Zusätzlich haben wir begonnen, unser Repertoire mit eigens für kleine und kleinste Kinder geeigneten Produktionen zu erweitern. Damit beabsichtigen wir unter anderem auch, unser Publikum zu verjüngen, und das Interesse der Kinder für das Ballett zu wecken.

Szene aus der Peer Gynt.

Sie erwähnten gerade das Repertoire für die jüngsten Zuschauer, wie ist es sonst aufgebaut? Spielen Vorlieben des Ensembles oder eher die des Publikums eine Rolle?

Die Zusammenstellung des Repertoires liegt in der Verantwortung der Leitung und des Managements sowie des Marketingteams unter Berücksichtigung fachlicher und künstlerischer Aspekte, wobei wir auch die Rentabilität der Aufführungen im Auge behalten müssen. Wir sind natürlich stets bemüht, Produktionen auf die Bühne zu stellen, die beim Publikum ankommen, denn nur so können wir erfolgreich sein.

Dafür müssen wir eine ausgewogene Linie finden, die sowohl dem Ensemble liegt, als auch unseren Fans gefällt. Aus diesem Grund haben wir symphonisches Ballett, das auf die musikalische Gefühlswelt und weniger auf eine Geschichte fokussiert ist, ebenso im Repertoire wie Handlungsballett, wie zum Beispiel Anna Karenina, das mit Bewegungen eine Geschichte erzählt. So ist für jeden etwas dabei und wir können auch Zuschauer für Ballettaufführungen begeistern, die sich sonst gegen die verbreiteten Stereotypien wie Spitzentanz und Tutu sperren. (Hierzu möchte ich anmerken, dass unsere Tanzkünstler sehr wohl im Stande sind Spitzentanz zu zeigen, denn das gehört ja zur Grundausbildung.) Die Tatsache, dass wir das Theater mit Ballettabenden regelmäßig füllen können und das Tanzensemble nach jeder Aufführung mit minutenlangem Beifall belohnt wird, bestätigt die richtige Linie unseres Konzeptes.

Sie sprachen Rentabilitätsaspekte an, wie steht es um die Finanzierung des Balletts?

Wie schon gesagt, ist die Stadt Győr Träger des Balletts, sie bildet das sichere Standbein unseres Betriebs. Natürlich sind wir auch auf anderweitige Förderung angewiesen, ohne Sponsoren geht heutzutage fast nichts. Die Audi Hungaria Zrt. ist unser Hauptsponsor, in Kürze werden wir einen neuen Dreijahresvertrag unterzeichnen. Darüber sind wir sehr froh, denn die Unterstützung des Unternehmens erleichtert unsere Arbeit und auch Mobilität immens. Aus der Reihe der zahlreichen Sponsoren möchte ich noch das Kardirex Gesundheitszentrum hervorheben, das medizinisches Monitoring durchführt und für die medizinische Versorgung akuter gesundheitlicher Probleme unserer Tänzer und Mitarbeiter zur Verfügung steht. Bei der hohen körperlichen Belastung der Tanzkünstler ist es von besonders großer Bedeutung, deren Gesundheit zu erhalten. Dafür sind wir sehr dankbar und fühlen uns rundum perfekt versorgt.

Ein besonderes Plus ist, dass sowohl die Audi Hungaria als auch Kardirex einen Preis etabliert haben, der jährlich an je ein Mitglied des Ballettcorps verliehen wird als Anerkennung für herausragende künstlerische Leistungen. Unseren jungen Tanzkünstlern bedeutet diese Anerkennung – und natürlich auch der damit verbundene Geldpreis – außerordentlich viel.

Seit dem 1. Juli 2020 leitet LÁSZLÓ VELEKEI (46) als Intendant das Győrer Ballett. Zu Beginn seiner Laufbahn war er ein Jahr lang Mitglied des Ungarischen Festivalballetts. 1997 wechselte er zum Ensemble des Győrer Balletts, wo er zuerst unter Iván Markó, später unter János Kiss als Tänzer und Choreograph tätig war.

gyoribalett.hu

Das Győrer Ballett wird auch im Ausland sehr geschätzt. In welchen Ländern hatten Sie schon Auftritte, wohin geht es als nächstes?

Aus der langen Liste von Auslandsauftritten würde ich die im New Yorker Joyce Theatre, in der Londoner Queen Elizabeth Hall und in der Mailänder Scala hervorheben. Darüber hinaus war unser Ballett zu Gast in Wien, Athen, Paris, Monte Carlo, im asiatischen Raum, in Russland und in Israel. In der aktuellen Spielzeit waren wir zweimal in Kolumbien, wo wir auf Einladung des Teatro Mayor von Bogota das dortige Publikum mit mehreren Anna Karenina-Aufführungen zu regelrechten Begeisterungsstürmen hinreißen konnten.

Wir nehmen auch gerne an internationalen Festivals teils, denn bei diesen Gelegenheiten kann sich unsere Tanztruppe mit anderen Ensembles messen, es ist sehr lehrreich zu wissen, wo wir stehen.

Eine ganz besondere Ehre wird uns zuteil, wenn Ungarn am 1. Juli die EU-Rats­präsidentschaft übernimmt. Bei der feierlichen Eröffnungsveranstaltung in Brüssel werden wir zusammen mit dem Ungarischen National-Tanzensemble das Rahmenprogramm bestreiten. Wir sind sehr stolz darauf, auch dort unser Können zeigen zu dürfen.

Welche Pläne, Wünsche schweben Ihnen für die Zukunft vor, was würden Sie gerne mit und für das Ensemble verwirklichen?

Ich habe einen lang gehegten Traum, den ich zum 50. Jubiläum des Balletts verwirklichen möchte. Zu diesem Jahrestag sollten wir endlich ein eigenes Zuhause bekommen. Das Ensemble hat zwar seit fünf Jahren moderne Probenräume, die aufgrund ihrer Beschaffenheit und Größe auch für kleinere Aufführungen, insbesondere für Kinder, geeignet sind, aber wir sind seit Bestehen des Balletts im Nationaltheater von Győr untergebracht. Damals war das Theater ein neu erbautes Gebäude mit modernster Bühnentechnik und für das frisch gegründete Ballett die denkbar beste Möglichkeit.

Szene aus der scharlachrote Buchstabe.

Inzwischen ist der ikonische Theaterbau für beide Ensembles aber einfach zu klein geworden. Darüber hinaus stehen seit Jahren diverse Diskussionen über mögliche Modernisierungsmaßnahmen im Raum. Das Ballett als kleine eingeschworene Gemeinschaft ist jedoch auf Kontinuität angewiesen, deshalb wäre ein eigenes Zuhause das schönste Geschenk zum runden Geburtstag des Ensembles. Diesbezügliche Vorgespräche haben schon stattgefunden, auch gibt es vorsichtige mündliche Zusagen. Wir glauben fest an unseren Traum und vertrauen darauf, dass wir zum 50-jährigen Bestehen mit einem eigenen Gebäude in die nächsten Jahrzehnte starten können.

Was steht in dieser Spielsaison noch auf dem Programm?

Vom 19. bis 23. Juni sind wir zum 19. Mal Gastgeber des Ungarischen Tanzfestivals. Das Festival wurde auf Initiative meines Vorgängers, János Kiss, 1998 ins Leben gerufen. Für ihn war es wichtig, dass sich Volkstanz, moderner Tanz, Ballett und auch andere Kunstgattungen parallel präsentieren können. Diese Tradition führen wir gerne weiter.

„Ich möchte die Werte des Ensembles bewahren und sie in einer der heutigen Zeit angepassten Form nutzen.“

Dieses Jahr können wir ein phantastisches Ensemble der Veranstaltungsreihe anlässlich des Jahres der Ungarisch-Türkischen Kultur bei uns begrüßen. Selbstverständlich sind die Besten der heimischen zeitgenössischen Tanzszene dabei, das Publikum kann spannende Premieren und eine verblüffende Fotoausstellung bewundern. Darüber hinaus sind auf dem Platz vor dem Győrer Nationaltheater frei zugängliche Freiluftveranstaltungen und mitreißende Kinderprogramme geplant, hoffen wir, dass auch das Wetter mitspielt!

Wie würden Sie Ihre künstlerische Tätigkeit in einem Satz zusammenfassen?

Das Motto meiner Bewerbung um die Position des Intendanten lautete „Tradition und Innovation”. Dem bleibe ich weiterhin treu, ich möchte die Werte des Ensembles bewahren und sie in einer der heutigen Zeit angepassten Form nutzen.

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