Gespräch mit den Professoren Frank-Lothar Kroll und Heinz Theisen
Unipolare versus multipolare Weltordnung
Agiert Europa im gegenwärtigen geopolitischen Umfeld souverän? Macht Europa in diesem Krieg das, was seinen Interessen entspricht?
Kroll: Europa kann nicht völlig souverän agieren, unser Kontinent ist im Moment kein autonomer Spieler in der Weltpolitik. Die EU ist durch die NATO mit den USA verbunden – und mit vielen anderen Ländern, mit denen es NATO-Partnerschaften gibt. Von Marokko bis nach Pakistan gibt die Zusammenarbeit der EU mit solchen und anderen Ländern dem westlichen, atlantischen Einflussraum Profil, wirklich souverän agieren kann da niemand mehr. Eine Abnabelung der EU von den USA kommt gar nicht in Frage – beide sind in einer Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden. Amerika hat dem Westen Europas 40 Jahre lang eine dringend notwendige Sicherheit geboten.
Wünschenswert wäre aber, dass die EU mutiger wird in der Formulierung eigener Positionen. Wünschenswert ist zum Beispiel die Schaffung einer Europa-Armee, die sich zwar nicht von der NATO absetzt, aber eine Art eigene NATO bildet gegenüber der NATO im amerikanischen Einzugsfeld. Vielleicht bietet Putins Krieg gegen die Ukraine ja eine Chance, die Einheit Europas zu befördern und etwas Haltbares auf die Beine zu stellen – Einheit, aber keine Einförmigkeit. Das wollen nur EU-Bürokraten. Die Bürger der EU wollen Einheit ohne Einförmigkeit. Sie wollen Vielfalt in der Einheit – auch und gerade viele Bürger Ungarns wollen das.
Ich persönlich wünsche mir, dass sich die EU als eigenständiger Akteur im globalen Kräftespiel stärker positioniert, mehr Mut entwickelt in der Formulierung ihrer Interessen – auch gegenüber den USA, aber nicht in Konfrontation mit den Amerikanern. Ohne die USA ist die NATO ein zahnloser Tiger. Und ohne die NATO wäre die EU schutzlos der Machtgier Russlands ausgeliefert.
Theisen: Ja, wir bräuchten eine europäische Armee als Pfeiler in der NATO, die aber so autonom ist, dass sie auch zu den amerikanischen Abenteuern Nein sagen kann. Die Amerikaner haben aus der NATO ein Offensivbündnis gemacht, das global aufgestellt ist mit Partnerschaften bis nach Pakistan und weiter. Das hat mit dem alten Defensivbündnis, mit der Verteidigung des Westens, wenig zu tun. Aber nur darum sollte es gehen. Dafür bräuchte Europa ein militärisches Gegengewicht, damit man auch mal Nein sagen kann.
Im Moment kann Europa es nicht, weil es dann schutzlos wäre. Ohne die Amerikaner kann sich Europa überhaupt nicht verteidigen. Der Ukrainekrieg hat leider dazu geführt, dass den Europäern ihre Machtlosigkeit nochmal brutal demonstriert wurde. Reden wir nicht darum herum: Wer immer die Pipelines in die Luft gesprengt hat, hat dies sicher nicht ohne Einverständnis und Hilfe der USA getan. Damit ist klar gemacht worden: Ihr gehört zu uns, ihr habt mit den Russen nichts mehr zu tun. Und dass die Amerikaner darüber bestimmen, wie wir unsere Energieversorgung betreiben, mit wem wir handeln können. Mit China werden sie es auch versuchen.
Ich halte all das für ein Unglück. Europa wird dadurch zu einem Spielball. Ich sehe die amerikanische Politik seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sehr negativ – für die Zeit davor müssen wir dankbar sein. Aber jetzt haben sie uns in weltpolitische Verstrickungen hineingezogen, aus denen wir nur rauskommen, wenn wir eine eigene Stärke entwickeln. Europa ist nach außen völlig schwach, es hat nach außen ja nicht mal Grenzen. Wie würden Sie ein Land verteidigen, das keine Grenzen hat, aber dafür von innen völlig überzentralisiert ist?
Da gebe ich dem Kollegen und Orbán recht. Nach innen müsste die EU dezentral sein – Vielfalt –, nach außen stark und einheitlich, allerdings in defensiver Absicht, nicht für die USA in offensiver Absicht. Da kommen große Aufgaben auf die Europäische Union zu. Leider ist bisher Orbán der Einzige, der dieses Problem so sieht, wie wir das jetzt sehen. Aber hoffen wir darauf, dass sich die Vernunft Schritt für Schritt, langsam durchsetzt. Wenn nicht, löst sich die EU auf, dann sind wir außenpolitisch Bundesstaaten der USA.
Weichen die Interessen Europas in diesem Krieg von denen der USA ab?
Kroll: Nein, grundsätzlich nicht. Man muss doch eines sehen: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, offene Gesellschaften – das sind alles Werte, die ständig von allen Seiten bedroht werden. Europa teilt mit den USA diese Werte, und mit einigen wenigen anderen Ländern der Welt. Die arabischen Staaten sind keine Demokratien, kein einziger islamischer Staat, auch nicht die Türkei, und China ohnehin nicht. Die Demokratie ist eine ganz kleine Insel auf der Welt, die ständig angefeindet wird, von außen, aber auch von innen her. Sie ist nicht die Normalität, sie wurde überall erkämpft, und sie muss verteidigt werden. Und deshalb sehe ich die USA und die EU in einer übergeordneten Interessengemeinschaft. Man mag da in Nuancen voneinander abweichen, man mag unterschiedliche wirtschaftliche, strategische und militärpolitische Ziele auf der Agenda haben. Doch in den großen Fragen und im Grundsätzlichen ist man sich einig – muss es sein! Denn wir haben drei große Feinde auf der Welt: den Islamismus, ein immer aggressiver und anmaßender auftretendes China und Russland.
Theisen: Wieder teils Zustimmung, teils Widerspruch. Es gibt eine westliche Wertegemeinschaft. Das sind aber nur ein Achtel der Weltbevölkerung. Da unterscheiden sich die Interessen der USA und Europas fundamental. Sie unterscheiden sich darin, wie wir diese Gemeinschaft beschützen wollen. Die Amerikaner wollen den Westen ständig ausdehnen – nach Afghanistan, in den Irak und die Ukraine, usw. Die klügeren Europäer sagen: Wir haben genug damit zu tun, das, was wir haben, zu bewahren, also uns zu begrenzen und dann zu behaupten. Die Amerikaner verfolgen eine offensive, universalistische Politik. Die Europäer, die im Moment im Kielwasser der Amerikaner sind, sollten eine Politik der Selbstbegrenzung zur Selbstbehauptung betreiben, also nicht intervenieren, sondern lieber die eigenen Grenzen sichern. Da hätten sie genug zu tun.
Ich würde die anderen Länder lieber als Gegner bezeichnen, nicht als Feinde. Dass China mit uns inzwischen derart umspringen kann, ist ja unsere eigene Schuld. Wir haben ihnen ja das ganze Know-how geliefert in unserer Gier, ganz schnell Profite machen zu können. Wir haben unser Know-how verschenkt, wir haben ihnen viel zu offene Märkte gestattet. Dass sie das jetzt zu ihren Gunsten ausnutzen, ist eigentlich nachzuvollziehen. Und Russland ist erst seit kurzem Feind. Man hätte mit einer klügeren gesamteuropäischen Politik – Stichwort: Gorbatschow und gemeinsames Haus Europa – Russland mit ins Boot holen können. Nicht in ein Boot der Demokratie und des Westens. Es hätte eine Partnerschaft unter Verschiedenen werden können, rein defensiv. Das ist völlig versäumt worden und hat nun zum schrecklichen Ergebnis in der Ukraine geführt, wo beide Mächte aufeinanderprallen. Es wäre sinnvoller gewesen, sich vorher auf die Neutralität der Ukraine zu einigen, um dann praktisch die nördliche Hemisphäre gemeinsam zu stabilisieren.
Welche Folgen wird der Krieg für die freiheitliche Grundordnung in den Staaten Europas haben?
Kroll: Wenn es Putin wirklich gelingen sollte, den von der russischen Armee total zerstörten Teil der Ukraine völkerrechtswidrig einzuverleiben, dann betrifft das vorderhand nur das traurige Schicksal dieser okkupierten Gebiete. Aber man muss doch eines ganz klar festhalten: unter Gorbatschow und Jelzin wäre ein von Herrn Theisen angedeutetes Arrangement auf Augenhöhe möglich gewesen. Unter Putin ist es vollkommen ausgeschlossen. Wenn er im Fall der Ukraine Erfolg haben sollte, wird er sich als nächstes Ziel Moldawien vornehmen.
Verlorene Kriege haben in Russland immer dafür gesorgt, dass sich das System liberalisiert hat. Gewonnene Kriege bewirken das Gegenteil. Wenn Putin seinen Krieg gegen die Ukraine gewinnt, wird sich seine Diktatur zur totalen Tyrannei ausweiten. Mir tun schon jetzt die armen Russen leid, die diesem Zangengriff unterworfen werden.
Theisen: Ich war sehr oft in Russland beruflich, als Dozent. Es geht ja nicht nur um Putin – er ist ja von der Mehrheit der Russen gewählt. Ich konnte nicht feststellen, dass in Russland – das gilt übrigens auch für China und die ganze islamische Welt – eine Sehnsucht nach der westlichen Freiheit und Demokratie besteht. Das bilden wir uns nur ein. Das sind westliche Werte. Die sollten wir schützen und achten, aber uns nicht einbilden, dass nun jeder Russe und Chinese so leben will wie wir. Die Abwehr der westlichen Werte ist viel mehr voll im Gange. Man nennt das dekadent, man nennt das heruntergekommen; der Westen ist eigentlich mehr ein Schreckbild geworden für den normalen Russen als ein Sehnsuchtsort.
Dass Putin nun den Westen erobern will, ist schon allein militärisch absurd. Er hatte es ja nicht einmal geschafft, Kiew zu erobern. Dass er einen NATO-Staat angreift, ist, sofern er bei Sinnen ist, völlig undenkbar. Er hat dazu gar nicht die Kapazitäten, die Möglichkeiten, ich glaube auch nicht, dass er den Willen hat. Er hat die rote Linie immer bei der Ukraine gezogen. Er hat nie dem Baltikum mit Krieg oder dergleichen gedroht. Die rote Linie ist die eigene Einflusssphäre, Ukraine, Georgien. Ich würde den Imperialismus Russlands als defensiven Imperialismus bezeichnen. Es ist absolut undenkbar, die Sowjetunion wieder herzustellen, das hat Putin auch nie beabsichtigt.
Wir haben drei Weltmächte: USA, China und Russland. Wenn die sich gegenseitig destabilisieren, dann wird es gefährlich. Alle drei sollten sich völlig zurückzuhalten. Sie dürfen jedoch defensiv ihr Imperium sichern, sie dürfen ihre Interessen wahrnehmen, sie dürfen nur nicht darüber hinausgehen. Putin hat niemals erkennen lassen, dass er die westliche Welt angreifen will. Solche Ängste brauchen wir gar nicht zu haben. Wir sollten aber die Einflusssphäre Russlands respektieren. Wir hätten die Ukraine neutral lassen sollen und sollten auch Georgien neutral lassen.
Dann bleibt Russland für sich und muss sich aus eigener Kraft vorwärts oder auch rückwärts entwickeln, das ist nicht unsere Baustelle. Das geht uns im Grunde gar nichts an. Die westliche Universalität, diese Einbildung, alle Welt muss am westlichen Wesen genesen, ist im hohen Maße friedensgefährdend – und im Übrigen auch erfolglos. Jeder Krieg, der außerhalb der eigenen Hemisphäre geführt worden ist, von Vietnam bis Afghanistan, ist verloren gegangen. Da hat der Westen nichts zu suchen, man versteht diese Welten auch gar nicht. Man sollte lieber die eigene Welt zu stabilisieren, und die Stabilität der anderen Weltmächte in Ruhe lassen. Auf diese Weise können wir eine multipolare Weltordnung aufbauen. Was die Amerikaner stattdessen tun, ist ein fortwährender Versuch, via Einfluss – also nicht via Territorialität – eine Art Weltdominanz zu erlangen. Das sorgt aber nur für pausenlosen Unfrieden.
Kroll: Ich stimme zu, es ist nicht die Aufgabe Europas und der USA, im Irak, in Afghanistan oder in Libyen demokratische Verhältnisse zu schaffen und dorthin Normen und Werte zu exportieren, die nicht zu den Traditionen dieser Länder passen und die man dort eigentlich nicht haben will, weil sie mit den Prinzipien des Islam nicht vereinbar sind. Aber die Ukraine ist doch kein islamisches Land! Sie ist ein osteuropäisches Land! Lviv gehörte bis 1918 zu Österreich-Ungarn, danach zu Polen – und diese schöne Stadt, eine der vier Hauptstädte des Habsburgerreiches, wird jetzt von Putins Bomben heimgesucht! Die Ukraine gehört zu Europa, und sie will zu Europa gehören. Selbst die Russisch sprechenden Ukrainer wollen das.
Theisen: Wenn Sie den Westen als Konsum definieren, dann gebe ich Ihnen Recht. Dann will alle Welt westlich sein. Aber das sind ja nicht unsere Werte. Das sind unsere Produkte.
Kroll: Aber die Produkte konnten doch nur geschaffen werden, weil wir diese Werte besitzen. Warum erzeugen die Russen denn solche Produkte nicht? Weil sie nicht das Wertefundament haben, um solche Produkte schaffen zu können! Im Übrigen legen ja sogar Putins Oligarchen ihr zusammengerafftes Geld im Westen an, investieren in Westimmobilien, schicken ihre Kinder in westlichen Ländern auf Schulen und Universitäten.
Theisen: Die Sehnsucht nach der westlichen Welt – und das gilt auch für Muslime, für Chinesen, für Russen – gilt ausschließlich dem westlichen Konsumismus und Hedonismus, aber nicht unseren Werten. Und auch nicht den Voraussetzungen des Konsums: Harte Arbeit, Zivilgesellschaft sind alle keineswegs so hoch im Kurs. Wenn die arabische Welt zu uns kommt, dann nicht aus Liebe zur Demokratie, sondern aus Liebe zu Gucci & Co. Aber das ist kein Grund, diese Leute für Demokraten zu halten. Die westliche Demokratie wird in all diesen drei genannten Regionen abgelehnt. Aber das geht uns nichts an.
Zur Ukraine: Ja, die Russen werden eher die ganze Ukraine in Schutt und Asche legen – auch Kiew –, bevor sie sie dem Westen überlassen. Deshalb ist es verbrecherisch, die Ukraine nach Westen zu ziehen, im Wissen, dass die Russen um keinen Preis die Ukraine dem Westen gönnen werden. Es muss nicht atomar sein, sie können auch mit konventionellen Waffen die ganze Ukraine einäschern. Deshalb ist dieses Treiben des Westens, die Ukrainer ständig mit Waffen zu beliefern, um sie damit zum Weiterkämpfen zu ermutigen, im höchsten Maße friedensgefährdend. Es gefährdet vor allem die Ukraine. Man kann nicht einfach sagen, jedes Volk kann sich seine Verbündeten aussuchen, wie es will. Wenn es Nachbar einer Weltmacht ist, dann kann es das nicht. Geografie ist Schicksal.
Hätte Angela Merkel im Kanzleramt den Krieg verhindert?
Theisen: Eher nicht. Ich halte nicht viel von Merkel. Sie ist eine Opportunistin, die immer das macht, was gerade opportun ist. Im Übrigen hat sie einen ganz schlimmen Fehler gemacht, indem sie die Minsk-Abkommen im Nachhinein für verlogen erklärt hat, ohne Not. Sie wollte mal wieder bei der Mehrheit dabei sein, die den Russen eins aufs Dach geben will. Angela Merkel ist, wenn man sie positiv sieht, eine völlig überschätzte Figur. Sie hatte ja die Chance, mit dem Minsk-Abkommen einen Friedensprozess in die Wege zu leiten. Sie hat es aber nicht geschafft, beide Seiten zur Einhaltung des Minsk-Abkommens zu bewegen. Auch nicht die ukrainische Seite, die ja ständig den Donbas beschossen hat, mit immerhin 14.000 Toten – das darf ja auch nicht vergessen werden. Merkel hätte eine Chance gehabt, für eine Friedenslösung zu sorgen, sie hat immerhin 2008 ein Veto gegen die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine eingelegt, aber sie hat nicht konsequent auf eine europäische Friedensordnung hingearbeitet, in der eine neutrale Ukraine als Pufferzone ihren Platz gehabt hätte. Insofern traue ich ihr gewissermaßen auch im Nachhinein die Verhinderung des Krieges nicht zu.
Kroll: Es wird Sie überraschen, aber in diesem Fall bin ich mit meinem Kollegen Heinz Theisen völlig einer Meinung. Merkel war keine bedeutende Erscheinung. Sie hatte weder große Ideen noch große Ziele. Ihr Hauptziel war der Machterhalt und der Machtausbau. Politik war für sie ein geschmeidiges Anschmiegen an den Zeitgeist, sie tat immer das, von dem sie glaubte, dass die Mehrheit der Wähler es sich wünschen würde. Daher war sie auch keine große Politikerin, denn große Politiker müssen dem Zeitgeist immer ein paar Schritte voraus sein, ihm nicht einfach nur nachlaufen. Und sie hat viele Europäer durch ihre demonstrativen nationalen Alleingänge gegen Deutschland aufgebracht.
Sie hatte zu Orbán sicherlich ein besseres Verhältnis als unser jetziger Kanzler, aber das ist auch nicht schwer. Kanzler Scholz besitzt noch weniger Profil als Exkanzlerin Merkel. Wenn man sich vor Augen hält, dass dieser Mann ein Nachfolger Otto von Bismarcks, Konrad Adenauers und des großen Willy Brandts ist! Das sagt viel aus über den Zustand der politischen Elite in unserem Land…
Bewegen wir uns abermals auf eine in Blöcke gespaltene Welt zu?
Theisen: Politisch und kulturell bin ich für Blockdenken, für die multipolare Weltordnung, in der die Blöcke sich gegenseitig in Ruhe lassen. Aber wissenschaftlich, technisch und ökonomisch bin ich für Konnektivität. Selbstverständlich müssen wir auch mit Russland und China Handel betreiben. Auf die Kostenvorteile des Welthandels dürfen wir auf keinen Fall verzichten. Es ist völlig vernünftig, in wirtschaftlicher Hinsicht eine Politik der Konnektivität zu betreiben. Aber man muss natürlich auch wissen, wo seine politischen Grenzen sind. Das weiß Ungarn auch. Also: politisch Blockdenken in defensiver Ansicht, aber wirtschaftlich, technisch, ökonomisch: Konnektivität. Das macht Ungarn gut.
Kroll: Ich will mich nicht einmischen in ungarische Probleme, aber ich denke und hoffe, dass es auch Ihr Ministerpräsident so sieht. Im wirtschaftlichen, finanziellen Bereich muss es einen Blick nach außen geben, aber militärisch und politisch muss die EU zusammenhalten. Eine Konfrontation zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaften, zwischen demokratischen und autoritär-diktatorischen Systemen zeichnet sich ab. Ob da noch Zwischenräume möglich sind, muss sich erst noch erweisen.
Theisen: Lieber ein Kalter Krieg als ein heißer Krieg. So schlecht war die Zeit des Kalten Krieges gar nicht, wenn man bedenkt, was damals für Weltanschauungsgegensätze friedlich überbrückt worden sind. Wenn man so will, werden wir natürlich einen neuen Kalten Krieg haben, vor allem gegen Russland. Aber das darf uns nicht daran hindern, anders als im ersten Kalten Krieg, Handel zu betreiben. Das steht im Interesse aller. Ich glaube auch, dass die Kräfte der Wirtschaft stärker sein werden als die der Politik, und sich trotz der Blöcke, die es politisch geben wird, der Welthandel in einer Eigendynamik fortsetzen wird.
Wie sollte ein Land, das Konnektivität in der Wirtschaft anstrebt, vorgehen – damit es nicht zu einer unerträglichen Isolation innerhalb des Blocks kommt, dem man angehört?
Theisen: Ungarn war und ist nicht zuletzt deswegen isoliert, weil die anderen so unvernünftig sind. Ich habe ja kein Hehl daraus gemacht, dass Ungarn für mich ein Modell ist. Dass die Deutschen und die Engländer und Franzosen eine so unglückliche Politik machen, ist kein Grund für Ungarn, seine kluge Politik aufzugeben. Das ist auch ein Grund, warum ich hier bin: Wir müssen Werbung machen für das ungarische Modell, für die ungarische Politik. Die Deutschen und die Franzosen werden sich an die ungarische Politik anbequemen müssen. Das ist natürlich ein weiter Weg, aber denken Sie an Meloni: Es gibt schon Anzeichen dafür, dass die anderen realistischer werden. Es geht hier um Realismus: Das zu tun, was der Realität entspricht. Das hat gar nichts mit Links und Rechts zu tun. Auch wenn Sie an die dänischen Sozialdemokraten denken, die jetzt die Grenzen zumachen: das, was Orban vormacht, wird mit langer Zeitverzögerung nachgemacht werden. Insofern hat Ungarn überhaupt keinen Grund, von seinem Kurs abzuweichen, sondern eher zu hoffen, dass sein Kurs übernommen wird.
Kroll: Man kann es auch noch ein wenig weitertreiben: Dieser Krieg ist eine Chance für eine Neupositionierung innerhalb der EU. Nach 1989 haben viele Christen wie ich gehofft, dass aus dem Osten, aus Polen, aus Ungarn frischer Wind kommt, dass das größere Europa nicht nur eine Erweiterung des Westens nach Osten bringt, sondern dass der vom Bolschewismus erlöste Osten Werte, die sich dort über die Jahrzehnte der Fremdbestimmung hinweg erhalten haben, zu uns in den Westen hinüberträgt.
Für mich besteht diese Identität Europas aus einer Verbindung von Christentum und Aufklärung, christlicher und aufklärerischer Werte – untermauert und befestigt durch den Grundsatz nationaler Vielfalt, die Idee persönlicher Freiheit und das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit des Kontinents über alle Differenzen und Meinungsunterschiede hinweg. Identität in der Differenz, Einheit in der Vielfalt. Leider ist es zu einer gemeinsamen Besinnung auf solche genuin europäischen Wertvorgaben bisher nur selten gekommen. Deutschland kann mit seiner lächerlichen Krämer- und Kleingärtnergesinnung, seiner moralisierenden Nabelschau, seiner fragwürdigen Asylpraxis und seinen zahllosen infrastrukturellen Defiziten und Defekten einen solchen Anspruch nicht erheben, geschweige denn ihn einlösen. Das will es ja auch gar nicht, zumindest nicht offiziell.
Frankreich glaubt, es könne das – ist mit seinen vielen eigenen Problemen aber doch ebenso ausgelastet wie die Deutschen. Die Briten haben sich offiziell aus der EU verabschiedet und nun alle Hände voll zu tun, um mit dieser Fehlentscheidung fertig zu werden. Mittelosteuropa hätte jetzt die Chance, eine Führungsrolle in der EU zu übernehmen. Auch und gerade in der Politik der EU gegenüber Russland, auf jeden Fall aber ernster genommen zu werden, als das allzu lange Zeit der Fall gewesen ist. Im Grunde hat die EU jahrzehntelang einen kolonialen Blick auf die Mitte und den Osten geworfen, in dem überheblichen Anspruch, den neu hinzugekommenen Ländern erst einmal zu erklären, was Demokratie ausmacht und wie Rechtsstaatlichkeit funktioniert. Das mag in vielen Fällen ja durchaus gerechtfertigt gewesen sein, doch eine solche Haltung sollte jetzt gründlich überdacht werden.
Theisen: Die Deutschen wollen eine moralische Führungsmacht sein, aber damit machen sie sich lächerlich. Ein Land, das keine Armee hat, kann in keiner Weise Führungsmacht werden.
Kroll: Die Deutschen sind eine klägliche Nation geworden. Sie haben vor allem Angst – am meisten vor sich selbst…
Theisen: Wenn man unsere Außenministerin sieht, dann kann man sich nur schämen.
Das hier gekürzt wiedergegebene Gespräch wurde von Mátyás Kohán geführt und erschien in voller Länge auf dem Online-Portal des ungarischen Nachrichtenmagazins Mandiner. Die beiden Professoren sind derzeit als Gastprofessoren des Deutsch-Ungarischen Instituts am MCC in Budapest tätig.
Prof. Dr. Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Zurzeit ist er als Gastprofessor am Deutsch-Ungarischen Institut in Budapest tätig.
Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll ist Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der TU Chemnitz. Derzeit ist er als Gastprofessor am Deutsch-Ungarischen Institut (DUI) in Budapest tätig.
“Ich würde den Imperialismus Russlands als defensiven Imperialismus bezeichnen.”
Gefährlich. Solche Aussagen können in der Luft zerrissen werden, da dieses Land in ein anderes Land einmarschiert. Warum auch immer. Man sollte sich darauf beschränken zu erklären, in welchem Territorium es seine Hegemonie durchsetzen will, und wo und wie die USA es tun!
Zitat: ” da dieses Land in ein anderes Land einmarschiert. Warum auch immer.”
So leicht darf man es sich nun doch nicht machen. Der Frage, warum Russland die Militäroperation in der Ukraine durchführt, ist schließlich die alles entscheidende Frage, die es zu beantworten gilt.
Wer diesen Punkt ignoriert, ist entweder unfähig, die Bedeutung von Ursache und Wirkung zu erfassen, oder gar nicht daran interessiert, die wahren Ursachen für den Krieg in der Ukraine zu ergründen.
Sehr verkürzt ausgedrückt hat die Nato nach dem Putsch von 2014, der mit dem Sturz der Janukowitsch-Regierung endete, die Ukraine militärisch immer weiter aufgerüstet, was schließlich in der Ankündigung Selenskis gipfelte, Atomraketen in der Ukraine zu stationieren. Damit hätte sich die Distanz zwischen Atomraketen und Moskau auf 450 km verringert, womit Russland nicht mehr die Zeit gehabt hätte, im Falle eines nuklearen Angriffs zu reagieren, was für Russland selbstredend inakzeptabel war.
… Fortsetzung:
In dem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Präsident Kennedy 1963 während der Kuba-Krise mit Atomkrieg gedroht hatte, sollte die damalige Sowjetunion, als Antwort auf US-Atomraketen in der Türkei und Italien, Atomraketen auf Kuba stationieren. Die Distanz zwischen Kuba und Washington beträgt dabei immerhin 1800 km und die Raketentechnik war damals nicht soweit fortgeschritten wie heute.
Pardon, die Kuba-Krise war 1962…