Im Gespräch mit dem Kinderchirurgen Dr. Róbert Kőnig
„Jeder Unfall kann verhindert werden“
Im Laufe des Gesprächs wird deutlich: Er liebt, was er tut. Doch noch glücklicher wäre er, wenn er nichts zu tun hätte.
Herr Dr. Kőnig, wann hat die Kinderunfallchirurgie „Hochsaison”?
Sobald das gute Wetter da ist, haben wir auch wieder mehr zu tun. Im Winter gibt es andere Unfälle als im Sommer, in Buda gibt es andere Unfälle als in Pest. Wir hier im János-Krankenhaus haben im Sommer viele Reitunfälle, weil viele Kinder in der Umgebung reiten. Im Winter sind es dagegen viele Skiunfälle. Das ist für Pest nicht so markant. Unfälle, die im Haushalt passieren, kommen eher im Winter vor, beispielsweise Schnittwunden, weil ein Kind durch die Glastür gefallen ist oder sich in der Küche verletzt hat. Mit den ersten Frühlingstagen erreichen die Unfälle jedoch einen Höhepunkt, weil die Kleinen über den Winter einfach vergessen haben, wie sie sich sicher bewegen können, welche Regeln auf dem Spielplatz gelten und wie man richtig hinfällt, ohne sich zu verletzen.
Bisher war es im Sommer immer so, dass viele Menschen in den Urlaub gefahren sind und sich die Unfallversorgung deshalb aufs ganze Land oder eben auf das Ausland verteilt hat. Jetzt, in Pandemiezeiten, werden wir sehen, wie es wird.
Was verstehen Sie darunter, wenn Sie sagen, die Kinder müssen die Regeln des Spielplatzes neu erlernen?
Kinder vergessen einfach, was sie schon wissen, und sie wollen sich auch nicht an Regeln halten. Wenn Sie einem siebenjährigen Kind sagen, es soll nicht rückwärts die Rutsche hochklettern, dann wird es sich genau so lang daran halten, wie Sie ein Auge darauf haben. Sobald Sie jedoch den Blick abwenden, wird es genau das tun, was es gerade nicht soll.
Nun ist ein ganzer Winter vergangen, die Kids sehnen sich danach, endlich wieder draußen zu sein. Beim Laufen und Toben werden Endorphine ausgeschüttet. Klar, dass sie da nicht sonderlich viel Lust auf Regeln haben. Kinder lernen durch Bewegung ihre Umwelt und ihren Körper kennen, das ist wahnsinnig spannend. Aufwachsen an sich ist schon ein komplizierter Vorgang, hinzukommt aber, dass die Kinder nach langer Trennung endlich ihre Freunde auf dem Spielplatz wiedersehen. Und wenn dann Péter sieht, wie die drei Jahre ältere Anna von der Schaukel springt, dann wird er unweigerlich das Gleiche versuchen. Deswegen ist es unerlässlich, dass Eltern die Regeln fürs Spielen immer nochmal wiederholen.
Was für Regeln sind das im Speziellen?
Man muss etwa klarmachen, von wo bis wo der Spielplatz eigentlich reicht. Das ist nicht immer eindeutig. Gehört der tolle Kletterbaum auf der gegenüberliegenden Straßenseite beispielsweise noch dazu? Für uns Erwachsene ist es logisch, dass das nicht der Fall ist, aber ein Kind nimmt die Straße dazwischen anders wahr. Deswegen muss immer wieder klar definiert werden: wo ist der Spielplatz, wo kann gelaufen und getobt werden, wie kann das jeweilige Spielgerät oder Klettergerüst benutzt werden, wie muss man auf andere Kinder Acht geben und so weiter. All dies müssen Kinder jedes Jahr wieder neu lernen! Klar, je älter sie werden, umso weniger ist dies notwendig, aber im Alter zwischen 4 und 12 Jahren sollte das jeden Sommer aufs Neue klargemacht werden.
Wie steht es um die Prävention von Unfällen? Sicher gibt es Unfälle, die vermeidbar wären?
Jeder Unfall kann verhindert werden. Dafür braucht es vor allem Regeln, Regeln, Regeln und ein ständig wachsames Erwachsenenauge. Das müssen gar nicht unbedingt die eigenen Eltern sein, sondern können auch ältere Geschwister, Lehrer oder einfach Passanten auf der Straße sein. Wir alle müssen auf die Kinder achten!
Das klingt ja, als bedeute Kindsein heute vor allem, viele Regeln befolgen zu müssen. Wo bleibt denn da der Spaß?
Den Kindern sind die Regeln egal, deswegen stören sie sie auch nicht. Doch wir dürfen jetzt nicht an Regeln denken, die wir als Erwachsene als solche erkennen. Wir gehen bei Rot nicht über die Straße. Das ist eine Regel. Das ist auch dann eine Regel, wenn das Kind jemanden sieht, der genau das macht. Es dauert Jahre, bis Kinder solche Regeln verinnerlicht haben. Bis dahin müssen sie zum Schutz der Kinder ständig wiederholt werden.
Gibt es Situationen, in denen ich als Erwachsener auch für fremde Kinder Verantwortung übernehmen kann oder muss?
Gute Frage. Ich bin seit rund einem Jahr auch mit meiner Tochter auf Spielplätzen unterwegs und lerne so langsam die Spielplatz-Etikette kennen. Nun erkennen mich relativ viele Leute, weil ich medial präsent bin. Ich nehme es mir natürlich heraus, auch anderer Eltern Kinder auf Gefahren hinzuweisen. Aber das ist ja auch mein täglich Brot! Es ist für mich das Natürlichste der Welt, mit Kindern über Unfallgefahren zu sprechen. Kinder nehmen mir das auch nie übel. Allein schon, weil sie all das schon tausendmal gehört haben – und trotzdem interessiert es sie nicht! (lacht)
Gibt es Situationen, in denen andere Eltern es Ihnen übel nehmen, wenn Sie auf dem Spielplatz „eingreifen”?
Der Spielplatz ist quasi mein „natürliches Terrain”, dort sind Menschen, die mir auf Facebook und anderen Medien folgen. Man kennt mich. Und außerdem schimpfe ich ja auch nicht mit den Kindern. Ich glaube, es funktioniert viel besser, wenn ich einem Kind nicht verbiete, etwas zu tun, sondern ihm lieber dabei helfe, es risikofrei zu probieren.
Klar, Kinder machen trotzdem, was sie wollen, und dann kommt es schon mal zu kleineren Unfällen. In solchen Situationen kann man nichts tun, außer zu sagen: „Ich hab dich gewarnt.” Auch das gehört zur Prävention. Das wird in der Traumatologie im Rahmen der „Sekundärprävention” unterrichtet. Das ist nicht nur die Aufgabe von Ärzten, sondern die der Gesellschaft. Wenn beispielsweise ein Kind auf die Straße laufen will, halten wir es auf, egal, ob es unser eigenes oder ein fremdes Kind ist. Das ist Prävention.
Wichtig in diesem Bereich ist außerdem, dass wir als Eltern mit gutem Beispiel vorangehen. Mein Kind wird nur dann einen Helm beim Radfahren tragen, wenn ich mit Helm fahre. Kinder ahmen uns unweigerlich nach, und deswegen müssen wir mit unserem Verhalten Vorbild sein.
Es ist allgemein bekannt, dass Sie ein ausgesprochener Gegner von Trampolins sind. Warum?
Das ist einfach kein Spielzeug, sondern ein Gerät für Akrobaten. Seitdem wir vom Baum gestiegen sind, ist unser Körper einfach nicht mehr dazu geeignet, 15 Mal pro Minute aufzuschlagen. Unsere Wirbelsäule ist dabei jedes Mal einer großen Belastung ausgesetzt. Dafür sind wir einfach nicht mehr gemacht. Ganz zu schweigen davon, dass es noch viel gefährlicher wird, sobald mehrere Kinder gemeinsam springen. Eltern würden ja auch nicht einen Kreis auf den Boden malen und ihre Kinder darin aufeinander rumhüpfen lassen – im Trampolin aber schon? Weil es dort weich ist und man mit noch größerer Wucht aufeinanderfallen kann? Dabei führt genau das nicht nur zu Prellungen, sondern auch zu Brüchen.
Einer meiner Kollegen hat retrospektiv Zahlen zusammengetragen, welche Verletzungen wir in den vergangenen Jahren wie häufig operieren mussten. Die Daten haben ergeben, dass wir ebenso viele Fahrradunfälle operiert haben wie Trampolinunfälle. Der Unterschied ist nur, dass ungefähr 15 Mal mehr Kinder Fahrrad fahren. Die Verletzungen auf dem Trampolin sind zudem schwerer.
Hinzukommt, dass australische, amerikanische und auch deutsche Ärzte herausgefunden haben, dass das Trampolin für Kinder unter sechs Jahren sehr viel gefährlicher ist. Die Muskulatur ist einfach noch nicht stark genug und es kann zu einer Wirbelsäulenerschütterung kommen. Das fühlt sich ähnlich wie eine Gehirnerschütterung an. Die Rehabilitation kann Monate dauern. In Australien sind Trampolins für Kinder unter sechs Jahren deswegen verboten. Ganz anders ist die Situation bei uns in Ungarn. Hier sehe ich immer mehr Fotos von teuren Privatkindergärten, die unter anderem mit dem Besitz eines Trampolins für sich werben.
Was halten Sie von Trampolin-Parks?
Wir sind in der glücklichen Situation, dass so ein Park genau neben unserem Krankenhaus aufgemacht hat. Vor drei Jahren hätte ich noch nicht gedacht, dass ich so schnell lernen würde, Knöchelbrüche durch zu hohe Krafteinwirkung zu operieren. Das ist mittlerweile eine meiner Spezialitäten. Pro Woche werden drei Kinder aus dem Park zu uns in den OP geliefert.
Gibt es eine andere Sportart, der Sie ähnlich kritisch gegenüberstehen?
Reiten. Ich mag auch Pferde nicht. Wobei, das stimmt nicht, denn nicht das Pferd ist das Problem, sondern dass „Reitlehrer” auch solche Kinder auf Pferde setzen, die dafür nicht geeignet sind. Es braucht dafür einfach einen gewissen Gleichgewichtssinn und eine ausreichende Agilität. Übergewicht ist dagegen nicht unbedingt hilfreich. Man muss außerdem fallen können. Denn wer reitet, wird auch vom Pferd fallen.
Welche Sportart würden Sie Ihr Kind ausüben lassen, wenn Sie wählen könnten?
Wenn ich hier nur ein bisschen Einfluss auf meine Tochter ausüben könnte, dann würde ich ihr Schwimmen nahelegen! Das ist einfach der beste Sport. Er belastet die Gelenke nicht, dafür wird dabei aber die Muskulatur des gesamten Körpers gestärkt und die Lungenkapazität erweitert. Es gibt zwar eine Mannschaft, die einen antreibt, aber man ist trotzdem auch mal alleine mit seinen Dämonen und dem Kampf mit ihnen. Aber am Ende kann es natürlich sein, dass sie reiten will und dann ist Panik angesagt. (lacht)
Doch egal für welche Sportart sich ein Kind entscheidet, wichtig ist, dass es einen vernünftigen, ausgebildeten Trainer gibt. Und ganz am Anfang steht eine sportärztliche Untersuchung, bei der festgestellt werden kann, ob die gewählte Sportart auch wirklich passt.
Was halten Sie von Extremsportarten wie beispielsweise Downhill-Fahren?
Man sollte nicht gleich damit anfangen. Man sollte erst mal ein wenig Rad fahren und vielleicht mal eine Halfpipe besuchen, bevor man sich ans Downhill-Fahren wagt. Aber ich rate den Jungs und Mädels, die mit solchen Verletzungen zu mir kommen, nie vom Downhill-Fahren ab. Klar, sie können sich wirklich schwer verletzen, aber der große Unterschied ist, dass zwar sowohl Downhill-Fahren als auch Trampolin-Springen als Extremsportarten zu betrachten sind, jedoch vor allem die Fahrer beim Downhill das Risiko ernst nehmen und sich entsprechend schützen. Wenn wir mit Interviews wie diesem erreichen könnten, dass immer nur ein Kind auf dem Trampolin ist und dass stets ein Sicherheitsnetz ums Trampolin gespannt wird, dann wäre ich aber auch schon glücklich.
Wann müssen wir mit unserem Kind nach einem Sturz zum Arzt?
Nach so vielen Jahren in der Praxis fällt es mir ehrlich gesagt sehr schwer, Fälle mit Laienaugen zu sehen. Klar, ich erkenne, wann ärztliche Versorgung notwendig ist. Generell gilt aber, dass Beulen gerade im Alter zwischen vier und sieben Jahren vollkommen normal sind. Wichtig ist, dass wir unser Kind nach einem Sturz ruhen lassen. Kein Fernseher, kein Tablet. Das Hirn muss die Chance bekommen, abzuschalten, und das kann es nicht, wenn es mit Bildern und Tönen überflutet wird. Erbricht sich ein Kind mehrmals nach einem Sturz, ist unbedingt ein Arzt aufzusuchen.
Ein paar Grundregeln sind, dass Knöchelverletzungen beispielsweise erst nach drei Tagen untersucht werden sollten und nicht mitten in der Nacht, wenn die Schwellung verzögert auftritt.
Mit Deformationen geht es direkt zum Arzt. Ich möchte hier auch mit dem Irrglauben aufräumen, dass ein Gelenk, wenn man es noch bewegen kann, nicht gebrochen sein kann.
Oft sind es aber einfach nur die Eltern, die beruhigt werden müssen. Das ist auch vollkommen in Ordnung. Meine eigene Frau findet, ich bin zu locker. Aber der Unterschied ist, ich lasse meine Tochter klettern und stehe halt daneben und kann sie auffangen, wenn sie fällt. Aber ich lasse sie sich ausprobieren.
Witzigerweise stellen wir immer wieder fest, dass Eltern aus Erfahrung lernen: Mit dem dritten Kind kommen sie wesentlich seltener in die Notaufnahme. Nicht, weil sie es weniger lieben würden, sondern irgendwie fällt das Kind einfach anders. (lacht)