„Ökonomisch gesehen wird der Brexit wohl für kein einziges Mitgliedsland von Vorteil sein.“ (Foto: XXI Század Intézet / Donát Kékesi)

Interview mit Botschafter a.D. Mark Higgie

„Wir brauchen einen sauberen Brexit“

Mark Higgie, ehemaliger Botschafter Australiens in Ungarn, nahm in der vergangenen Woche als Referent an einer Konferenz des „Instituts des XXI. Jahrhunderts“ zum gegenwärtigen Kulturkampf teil. In unserem anschließenden Interview mit ihm vertieften wir einige der von ihm angesprochenen Themen, so etwa die Suche nach einem neuen Mächtegleichgewicht innerhalb der Post-Brexit-EU.

Seit 2019 sind Sie leitendes Mitglied im Budapester Danube Institute. Bedeutet das auch, dass sich Ihr Lebensmittelpunkt in Ungarn befindet?

Definitiv. Seitdem ich meine Aufgabe in Brüssel beendet habe, lebe ich mit meiner Frau in Budapest, also seit Ende 2017.

Wie ist es dazu gekommen, dass Sie sich in Ungarn niedergelassen haben?

Ich habe hier ja bereits einige Jahre als Botschafter gelebt. Nach dieser Zeit haben wir die Beziehung zu Budapest nie abreißen lassen, nicht zuletzt, weil wir uns hier eine Wohnung gekauft haben und regelmäßig hierher zurückgekehrt sind. Seit Ende 2017 wollten wir eine europäische Basis für meine journalistischen Tätigkeiten haben, und da wir uns hier immer sehr wohl fühlten, entschieden wir uns für Ungarn. In Budapest befindet sich zudem das Danube Institute, für das ich mich seit 2019 engagiere.

Könnten Sie uns etwas über das Danube Institute sagen, über seine Ziele und Aktivitäten?

Das Danube Institute wurde 2013 von John O’Sullivan gegründet, einem sehr angesehenen britischen Verleger und Journalisten. Er war Redenschreiber für Margaret Thatcher und verfügt über ein beeindruckendes Netzwerk an Kontakten in der ganzen Welt. Das Institut bietet sowohl Konservativen und klassischen Liberalen als auch ihren demokratischen Gegnern in Mitteleuropa ein unabhängiges Zentrum für intellektuelle Debatten.

Wenn Sie persönlich über Ungarn sprechen, würden Sie eher sagen, dass sich das Land in Ost- oder Mitteleuropa befindet?

Bis 1989 sprachen alle ganz einfach nur von Osteuropa, wenn sie die Länder meinten, die sich im kommunistischen Lager befanden. Schon damals handelte es sich natürlich um eine grobe Vereinfachung. Eine der mit 1989 einhergehenden Besonderheiten ist die Tatsache, dass Länder wie Ungarn der ursprünglichen politischen zivilisatorischen Identität Mitteleuropas wieder sehr viel näher gekommen sind.

Könnten Sie uns kurz auch einen Eindruck davon vermitteln, wie die englischsprachige Welt historisch zu Mitteleuropa steht?

Ich denke, das hauptsächliche Engagement sehr vieler Intellektueller und Aktivisten im Westen drehte sich im Rahmen des Kalten Krieges um die Hilfe, die man unterdrückten Nationen wie Ungarn zukommen lassen wollte. Dazu gehörten Intellektuelle wie Roger Scruton, John O’Sullivan, Frank Furedi und viele andere, die ein besonderes Interesse an diesem Teil der Welt hatten, der von jeher zur westlichen Zivilisation gehört und dorthin zurückkehren sollte.

Würden Sie sagen, dass auch Deutschland historisch zu Mitteleuropa gehört?

Wenn man sich eine Karte Europas von vor dem Ersten Weltkrieg ansieht, gehörten zu Mitteleuropa definitiv Deutschland und Österreich-Ungarn, also generell die deutschsprachigen Teile Europas und diejenigen, die Teil Öster­reich-Ungarns waren.

Bei der Konferenz sagten Sie, dass Sie persönlich sehr viel Verständnis für diejenigen hätten, die Großbritannien wieder als völlig unabhängiges Land etablieren wollten. Warum spielt diese Unabhängigkeit in Großbritannien eine so entscheidende Rolle?

Von Anfang an ging es bei dem Projekt der europäischen Einigung darum, Kompromisse einzugehen, wobei es insbesondere um die Aufgabe von zentralen Souveränitätsrechten und natürlich auch um Transferleistungen ging. In der ersten Phase bis in die 70-er Jahre hinein drehte sich alles um den gemeinsamen Markt. Das war für jeden eine fantastische Idee, sodass es auch eine große Unterstützung für einen Beitritt Großbritanniens zur EU gab. Für Großbritannien wurde es jedoch äußerst problematisch, immer mehr Kompromisse in Bezug auf die Souveränität einzugehen, als sich die EU zum Ende des Kalten Krieges mit dem Vertrag von Maastricht explizit auf eine politische Union zubewegte. Eines der wirklich ausschlaggebenden Probleme war aber die Einwanderung. Ich befand mich gerade in Brüssel, als der ganze Prozess 2016 stattfand, der zum Referendum führte. Wären die EU-Partner zu diesem Zeitpunkt gegenüber Großbritannien nur ein wenig flexibler gewesen, hätte das Referendum tatsächlich ganz anderes ausgehen können.

Könnte man sagen, dass die Mitgliedschaft Großbritanniens für eine Art von Gleichgewicht gesorgt hat, das es der EU erschwerte, die Souveränität ihrer Mitgliedstaaten einzuschränken?

Davon kann man ausgehen. Sicherlich gab es auch bei vielen verschiedenen Themen eine informelle Allianz zwischen Großbritannien und den Ländern der Visegrád-Gruppe. Das betraf wohl ganz besonders auch das Thema der Einwanderung, sodass man mit dem Brexit einen wichtigen Verbündeten verloren hat.
Wird es Länder geben, die auf die eine oder andere Weise vom Brexit profitieren werden?
Ökonomisch gesehen wird der Brexit wohl für kein einziges Mitgliedsland von Vorteil sein. Politisch gesehen spielt er vermutlich Deutschland und Frankreich in die Hände.

Könnte perspektivisch Mitteleuropa zu einem neuen Kräftegleichgewicht beitragen?

Wenn wir das heutige Mitteleuropa als die Visegrád-Gruppe definieren, dann wäre ich doch überrascht, wenn es zu tiefgreifenden Veränderungen käme. Die EU hat zwei Frontlinien: Die eine ist wirtschaftlicher Natur und verläuft zwischen dem Norden und dem Süden, die andere ist kulturell und trennt den Westen vom Osten. Ich gehe einfach davon aus, dass die Menschen in den Visegrád-Ländern eine andere Art von Regierung bevorzugen werden. Ich denke auch, dass diese Länder weiterhin einen Block bilden werden, durch den sie gemeinsam eine wichtige Stimme in der EU haben.

Bedeutet der Austritt Großbritanniens aus der EU im Allgemeinen eine Verschiebung auf dem eurasischen Kontinent?

Das würde ich so nicht annehmen. Großbritannien verfolgt überall auf der Welt eigene Interessen, es hat sehr bedeutende Streitkräfte. Gerade in Bezug auf Hongkong nimmt Großbritannien gerade eine sehr starke Position ein. Dementsprechend denke ich auch nicht, dass der Brexit auf die geopolitische Situation irgendeinen Einfluss haben wird.

Ein weiteres Thema, das wir gerne mit Ihnen besprechen würden, ist das sehr aktuelle Phänomen des Kulturmarxismus. Der kanadische Psychologe Jordan Peterson beschreibt es als eine postmoderne, mehr oder weniger verborgene Weiterentwicklung des Marxismus. Auch beim Kulturmarxismus gehe es um die Schaffung einer neuen Gesellschaft, um eine tiefgreifende Veränderung der menschlichen Natur. Würden Sie dieser Analyse zustimmen?

Zunächst muss ich sagen, dass es ein sehr guter Zeitpunkt ist, um diese Frage zu stellen. Denn was wir zurzeit sehen, ist die internationale Mobilisierung einer marxistischen Agenda – und zwar auf dem Rücken der Black Lives Matter-Bewegung. Dabei handelt es sich um einen ganz offenen Versuch, unsere Gesellschaften zu verändern. Dies wird in vielerlei Hinsicht unterstützt durch verschiedenste Institutionen, die nun schon seit Jahrzehnten von Linken kontrolliert werden. Die gegenwärtige Krise zeigt auch, wie weit diese Kontrolle bereits vorangeschritten ist. Das hätten sich viele Leute nicht träumen lassen!

„Was jetzt aber stattfindet, ist äußerst seltsam: Die Fusion eines extremistischen Marxismus mit einer anarchistischen Bewegung, deren eigentliches Ziel darin besteht, so ziemlich alles in Schutt und Asche zu legen.“ (Foto: XXI Század Intézet / Donát Kékesi)

Denken Sie, dass es auch ein Versuch ist, das kulturelle Erbe der westlichen Zivilisation in Frage zu stellen?

Tatsächlich gibt es eine ideologische Komponente der Stunde Null, die mich fast an die Agenda der Roten Khmer erinnert, die danach trachteten, alles zu beseitigen, was vor ihnen existierte. Ganz besonders sehen wir das zurzeit in den USA und auch in Großbritannien. In mancher Hinsicht geht das sogar noch über den traditionellen Marxismus hinaus, gerade weil die gesamte westliche Zivilisation abgelehnt wird. Das kann man ja von Karl Marx selbst in keiner Weise sagen, hatte er doch sehr viel Respekt für die Kultur des Abendlandes. Was jetzt aber stattfindet, ist äußerst seltsam: die Fusion eines extremistischen Marxismus mit einer anarchistischen Bewegung, deren eigentliches Ziel darin besteht, so ziemlich alles in Schutt und Asche zu legen. Das beinhaltet Institutionen wie die Polizei oder auch Gefängnisse. Gleichzeitig geht es um eine explizit gegen Weiße gerichtete, geradezu rassistische Agenda.

In den USA werden Statuen gestürzt. Passiert das auch in Australien?

Nein, zum Glück nicht. Die australischen Behörden waren in Bezug auf solche Bestrebungen sehr viel selbstbewusster. Die Statuen wurden überall in Australien auf robuste Weise verteidigt, sogar in den eher linken Teilen des Landes. Wenn die Polizei nicht so hart durchgegriffen hätte, hätten wir aber das gleiche Chaos gehabt wie in den USA oder Großbritannien.

Wie würden Sie die Statuen-Stürmerei ideologisch einordnen?

Das Ganze wurde ja von der Black Lives Matter-Bewegung vorangetrieben, die bezüglich ihrer Ideologie explizit marxistisch ist. Dabei betont diese Bewegung natürlich rassistische und historische Elemente und nicht so sehr klassische Elemente des Marxismus wie die Klasse. Die gestürzten Statuen stellen ja Sklavenhalter oder Kolonisatoren dar und nicht unbedingt Kapitalisten. Am Ende ist jedoch alles irgendwie miteinander vermischt.

Sprechen wir noch ein wenig über Europa! Halten Sie es für sinnvoll, von einer europäischen Zivilisation als Ganzem zu sprechen?

Das denke ich in der Tat. Europa stellt im Großen und Ganzen eine kulturelle Einheit dar – und zwar auf eine Weise, wie man es von anderen Teilen der Welt nicht sagen kann. Asien beispielsweise ist ein Kontinent, doch es gibt keine kulturelle Einheit, die ganz Asien umfassen würde. Tatsächlich gibt es dort radikal unterschiedliche Kulturen und Zivilisationen. Von Europa dagegen kann man sagen, dass es mehrheitlich christlich geprägt ist, auch wenn es Ausnahmen gibt, speziell auf dem Balkan. Natürlich wurde dies inzwischen auch durch die Einwanderung seit Ende des Zweiten Weltkrieges modifiziert. Dessen ungeachtet macht es zweifelsohne Sinn, von Europa als einer kohärenten Zivilisation zu sprechen. Interessant dabei ist die Tatsache, dass sämtliche Länder in Europa über eigene Kulturen, Sprachen und Lebensstile verfügen, auf die sie zurecht stolz sind. Gleichzeitig gibt es einen durchaus erfolgreichen Austausch, eine gegenseitige Durchdringung und Vermischung. Die Vielfalt der europäischen Kulturen und Sprachen bringt eine kreative Dynamik mit sich.

Wenn es heutzutage einen wachsenden Skeptizismus gegenüber der Europäischen Union gibt, könnte das auch daran liegen, dass die EU die kulturelle Dimension der europäischen Zivilisation aus den Augen verloren hat, um sich ausschließlich über ihre wirtschaftliche und nun auch politische Dimension zu definieren?

Ich frage mich, ob die EU überhaupt jemals die kulturelle Dimension im Blick hatte. Man spricht in den EU-Institutionen gern über Multikulturalismus, wobei ja nicht die europäischen Kulturen gemeint sind. Andererseits respektiert die EU die verschiedenen Sprachen der Mitgliedsstaaten. Man muss nur an den unfassbar komplexen Übersetzungsdienst des Europäischen Parlaments denken. Ich denke trotzdem, dass die EU dazu tendiert, unter ihren Mitgliedern Homogenität zu fördern.

Wie könnte die EU der kulturellen Dimension zu mehr Geltung verhelfen?

Dazu müsste das EU-Establishment explizit zum Ausdruck bringen, dass es die europäische Vielfalt willkommen heißt, dass es die spezifische Vielfalt der europäischen Zivilisation für gut befindet. Das EU-Establishment müsste betonen, wie wichtig die kulturelle Vielfalt der Mitgliedsstaaten ist. Zum Beispiel könnte man sich in Brüssel auch toleranter gegenüber den anderen Sichtweisen zeigen, die typisch für die Menschen in Mitteleuropa sind. Ich hatte persönlich immer den Eindruck, dass das EU-Establishment die Menschen hier bevormundet, damit ihre Gesellschaften so werden wie Westeuropa. Es behandelt die Menschen in dieser Region so, als seien sie noch nicht erwachsen, weil sie nicht verstehen würden, welche Vorteile der Multikulturalismus mit sich bringe. Dagegen gibt es in Bezug auf die typische Vielfalt der europäischen Zivilisation und Geschichte ganz definitiv eine große Intoleranz.

Können Sie noch kurz das Ergebnis des EU-Gipfels kommentieren?

Unter dem Deckmantel des Covid-Notstands hat Brüssel die Erlaubnis erhalten, große Mengen gemeinsamer EU-Schulden aufzunehmen, um diese Gelder unter den am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten zu verteilen. Während der Gespräche wurde dem Ministerpräsidenten der Niederlande, Mark Rutte, der die „sparsamen 5“ anführte, von Macron vorgeworfen, wie Großbritannien zu agieren, was in Brüssel als ultimative Beleidigung gilt. Die Interessenkämpfe auf dem EU-Gipfel haben einmal mehr bewiesen, dass wir einen sauberen Brexit brauchen.

MARK HIGGIE war von 1998 bis 2001 australischer Botschafter in Budapest. Zwischen 2006 und 2009 vertrat er Australien im British Joint Intelligence Committee. Von 2010 bis 2014 war er Berater des australischen Premierministers Tony Abbott in außenpolitischen Angelegenheiten, bevor er von 2014 bis 2017 Botschafter Australiens bei der EU und der NATO war. 2019 wurde er „Senior Fellow“ am konservativen Think-Tank des Danube-Instituts in Budapest. Zudem ist er Europakorrespondent für den Spectator Australia.

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