Im Gespräch mit Katalin Jánosi, der Enkelin des Revolutionsmärtyrers Imre Nagy
Der Geist von 1989
Zum 30. Jahrestag der Wiederbeerdigung erzählt Katalin Jánosi (*1951), bildende Künstlerin und Enkelin von Imre Nagy, den Lesern der Budapester Zeitung, wie sie diese Ereignisse durchlebt hat. Wie kam es, dass ihr Großvater als 63-Jähriger noch zum Revolutionär wurde? Wie bekam er schließlich, erst dreißig Jahre später ein würdiges Grab? Und wie empfand sie die Wiederbeerdigung, die zu einem der Schlüsselereignisse des Wendejahres 1989 werden sollte?
Wie war die Beziehung zu Ihrem Großvater?
Er lebte in dieser Villa, die jetzt das Imre-Nagy-Gedenkhaus ist. Wir wohnten in der Nachbarschaft. Meine Eltern waren beide berufstätig, sodass mein Bruder und ich sehr an meinen Großeltern hingen und viel Zeit mit ihnen verbrachten. Als mein Großvater Anfang 1955 aus seinem politischen Amt entfernt wurde, hatten wir Kinder es gut. Denn dieser ältere Herr mit Schnurrbart, der eher wie ein jovialer Professor wirkte, war überraschenderweise ein guter Spielgefährte. Ein großer Schelm, der mit Kindern wunderbar zurechtkam und sehr lieb zu uns war. Bis 1956 verbrachte ich hier eine schöne Kindheit. Danach fand die Beziehung zu meinem Großvater auf traurige, tragische Weise ein plötzliches Ende. Natürlich prägte mich das von Grund auf – mein ganzes Leben, meine Sicht auf die Welt, meine Beziehung zu den Ereignissen 1956 und auch meine spätere Arbeit im Imre-Nagy-Gedenkhaus.
László Rajk entwarf 1989 die Kulisse der Trauerfeier auf dem Heldenplatz. Wie kam es dazu?
Auch das beruht, wie so vieles im Leben, auf der Vergangenheit. Sein Vater, László Rajk wurde in den politischen Schauprozessen 1949 hingerichtet, deren Umstände Imre Nagys Regierung zu überprüfen begann. Schließlich fand am 6. Oktober 1956 die Beerdigung von László Rajk auf dem Budapester Zentralfriedhof statt. Das war das erste große, gesellschaftliche Ereignis, an dem mein Großvater nach seiner Pensionierung teilnahm. Am 4. November dann, als der Einzug der Russen absehbar war, warnte er Rajks Witwe und gemeinsam mit ihr und ihrem Sohn [dem jungen László Rajk] gingen meine Mutter, mein Bruder und ich zur jugoslawischen Botschaft, wurden dann aber gemeinsam nach Rumänien deportiert. Unsere Schicksale waren folglich sehr eng miteinander verflochten. Das Bühnenbild auf dem Heldenplatz symbolisierte ein zerbrochenes Schiff und war inspiriert von dem 1956er Mahnmal auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Auch das Innere des Imre-Nagy-Gedenkhauses wurde später von László Rajk entworfen, denn hier war damals nichts von der Originalausstattung übrig geblieben. Alles hatte man beschlagnahmt.
Was passierte nach Ihrer Rückkehr aus Rumänien im Jahr 1958?
Unsere Familie erfuhr vieles erst im Nachhinein, als alles schon lange vorbei war. Wir wussten nicht einmal, dass es einen Prozess gegeben hatte, dass sie verurteilt und hingerichtet worden waren. Es gab keinen Leichnam, es gab kein Grab. Nur diese unbegreifliche Tatsache, dass er nicht mehr da war, und dass mein Vater mit einer Haftstrafe von acht Jahren im Gefängnis saß. Das Ganze war unerträglich und grausam. Wir suchten dann das Grab meines Großvaters, vor allem in der Parzelle 301 auf dem Zentralfriedhof, aber man vertrieb uns immer wieder. 30 Jahre vergingen so, ohne dass wir Genaueres wussten. Es gab sogar Gerüchte, dass er gar nicht tot sei, sondern nach Sibirien gebracht worden war und dort noch lebe.
Wann erfuhren Sie schließlich von seinem Grab?
Erst 1988. Dafür brauchte es die Schwächung der Sowjetunion. Nicht wir haben die Wende hervorgerufen, vielmehr konnten wir uns befreien, weil das System über unseren Köpfen zusammenbrach. Zum 30. Jahrestag der Hinrichtung von Imre Nagy, am 16. Juni 1988, gab es bereits einige Demonstrationen, auf denen sehr mutig der Name von Nagy skandiert wurde. Die Polizei griff rigoros durch, wobei deutlich wurde, welcher Druck bereits auf dem System lastete.
Im Juni 1988 bildete sich das „Komitee für Historische Rechtssprechung“ [TIB], das später die Beerdigung organisierte und zum größten Teil aus Familienmitgliedern der Opfer und aus Verurteilten von 1956 bestand. Dieses Komitee forderte nun öffentlich in einem Schreiben, dass die sterblichen Überreste für eine Beerdigung herausgegeben werden sollten.
Die Demonstrationen und diese öffentliche Forderung leiteten die Rehabilitierung des Volksaufstands von 1956 ein. Denn dadurch wuchs auch der Druck aus dem Ausland: Ein Land in Europa, wo Menschen kein Grab bekamen und die Leichname nicht an die Familie herausgegeben wurden! Das durfte es nicht geben! Obwohl der damalige Generalsekretär Károly Grósz noch im Sommer verkündete, dass eine Beerdigung völlig unvorstellbar wäre, willigte man im Dezember 1988 schließlich in ein privates Begräbnis unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein. Innerhalb eines halben Jahres hatten wir plötzlich erreicht, was so lange unmöglich schien.
Am 28. Januar 1989 verkündete dann der damalige Staatsminister Imre Pozsgay live im Radio, dass 1956 ein berechtigter Aufstand gewesen sei, was natürlich die gesamte bisherige Ordnung über den Haufen warf. Denn wenn er berechtigt gewesen war, dann konnte es keine „Konterrevolution“ gewesen sein. Folglich wäre auch ein öffentliches Begräbnis angebracht.
Für so ein großes Ereignis war die Parzelle 301 aber natürlich zu klein, sodass als Ort für die Trauerfeier der Heldenplatz vorgesehen wurde. Doch erst mussten die Leichname gefunden werden und anfangs wusste niemand genau, wo wir das Grab suchen sollten.
Wie verlief die Exhumierung?
Während der Recherchen im Innenministerium stieß man auf eine Geheimakte namens „Wespennest“. Sie enthielt eine amateurhafte Skizze, die an eine Schatzkarte von Kinderhand erinnerte. Auf ihr war vermerkt, wieviele Schritte von welchem Baum entfernt ein Leichnam lag. Darunter fand sich auch einer namens „Borbíró Piroska“. Das war ein sprechender Name „bor“ (Wein) war rot, „bíró“ (Richter) könnte bedeuten, dass es eine hohe Person war und außerdem wurde ein Frauenname benutzt, um ihn zu entmännlichen. Das war der Codename für Imre Nagys Leichnam.
Der Ort der Exhumierung war absolut abgeriegelt. Hier kamen die unterdrückten Dinge der Gesellschaft ans Licht, aber auch nur in einem isolierten Kreis. Jeden Tag ein Stück Grauen mehr. Gerade so viel, dass es noch zu verkraften war. Warum waren die Leichname in Dachpappe und Draht gewickelt? Es stellte sich heraus, dass sie zuerst im Gefängnishof verscharrt und erst eines Nachts im Februar 1961 in die Parzelle 301 gebracht worden waren. Darum waren die Überreste der Körper auch in einem so schlechten Zustand.
Imre Nagy war mit dem Gesicht nach unten gedreht worden, wahrscheinlich damit der charakteristische Teil seines Körpers, der Schädelknochen, schneller zersetzt und unkenntlich wurde. Einfach grauenvoll! Vorher hatte es keine Zeit gegeben, sich auf ihren Tod vorzubereiten, nun musste man versuchen, sie anhand eines Knochens oder eines Schuhs zu identifizieren. Die an der Exhumierung im Frühling 1989 beteiligten Arbeiter leisteten hervorragende Arbeit. Trotzdem hatte das Ganze eine sehr deprimierende Atmosphäre.
Pál Maléter und Miklós Gimes wurden in einem Grab zusammen beerdigt, wofür Maléter sogar noch der Hüftknochen gebrochen wurde, damit er hineinpasste. Das alles war herzzerreißend und schrecklich. Draußen begann sich die Welt zu öffnen, Bücher erschienen über die Ereignisse von 1956, aber in der Parzelle 301 war alles klaustrophobisch und abgeschirmt von der Außenwelt. Jedes Mal, wenn ich damals einen Polizisten sah, brach ich in Tränen aus. Das war der Kontext, in dem ich mich befand.
Wie erlebten Sie die Vorbereitungen für die Wiederbeerdigung?
Ehrlich gesagt, stand ich sehr unter dem Einfluss dieser schlimmen Erfahrungen. Gleichzeitig versuchte ich an der Vorbereitung der Veranstaltung mitzuwirken. Sie sollte schön, würdevoll und wunderbar werden. Alle sollten daran teilnehmen können. Die Exhumierung war so dramatisch, aber gleichzeitig blickten wir einem positiven Ende entgegen. Mein Großvater und seine Gefährten sollten eine würdige Beerdigung bekommen, ihre Unschuld sollte anerkannt werden und nach so viel Verleumdung sollte endlich Klarheit über ihr Leben und Wirken geschaffen werden. Mit dieser menschlichen Seite des Ereignisses war ich sehr beschäftigt.
Was bleibt Ihnen von der Trauerfeier auf dem Heldenplatz in Erinnerung?
László Rajk und sein Team entwarfen die riesige Kulisse an der Kunsthalle in Schwarz-Weiß. Wir rechneten aber nicht damit, dass die Menschen unzählige Blumen mitbringen würden, die sie auf die Särge legten und auf die Bestattungswagen warfen. So bleibt mir ein sehr buntes Bild in Erinnerung, trotz des schwarz-weißen Grundlayouts. Auch der nicht abreißende Strom von Teilnehmern und das angemessene, würdevolle Verhalten der Menge prägte sich mir ein…das Schweigen der Massen, das gemeinsame Singen der Hymne… Es war ein wirklich kathartisches Erlebnis.
Auch als Imre Mécs alle aufforderte, sich an den Händen zu fassen und zu versprechen, dass so etwas nie mehr passieren werde. Alle haben glücklich geschworen, dass wir nie wieder solche Fehler begehen werden, nie wieder Sklaven sein werden. Aber dreißig Jahre später muss man einsehen, dass in der Politik sehr leicht Fehler gemacht werden, selbst von den Besten. Damals jedoch war es unbeschreiblich schön.
Diverse Kirchen nahmen kollektiv teil. Das war die erste zivile Veranstaltung dieser Art, wo auch sie dabei waren und sich gemeinsam hinter die Sache stellten. Die anschließende Beerdigung selbst auf dem Budapester Zentralfriedhof war ebenfalls überaus ergreifend.
Auch der damals noch unbekannte, derzeitige ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gehörte zu den Rednern auf dem Heldenplatz. Wie kam es dazu?
Unter den Organisatoren gab es den Vorschlag, dass auch die Jugend zu Wort kommen solle. Wir suchten jemanden aus einer jungen Organisation. Dazu zählte damals der Fidesz. Wir wussten nicht genau, wen wir fragen sollten, denn wir kannten niemanden von ihnen so genau. Dass wir schließlich Viktor Orbán – und nicht László Kövér oder Gábor Fodor – einluden, war absolut zufällig.
Wie war die Rede von Viktor Orbán?
Alle beteiligten Organisationen legten Wert darauf, dass dieser Tag in einem gesamtnationalen Sinne begangen und der künftige Zusammenhalt betont werden sollte. Es war furchtbar, was geschehen war. Auf dem gemeinsamen weiteren Weg dürfe so etwas nicht noch einmal passieren. Dieser Tag sollte nicht von Rache handeln. Natürlich gab es unter den Reden trotzdem auch härtere Töne, so zum Beispiel von Imre Mécs.
Viktor Orbán stach jedoch heraus, indem er etwa den „Abzug der Russen“ forderte. Damals war der Abzug der russischen Truppen, der insgesamt zwei Jahre dauern sollte, aber schon in vollem Gange. Ein kleiner Teil von ihnen hatte das Land bereits verlassen. Die Situation war in etwa so, wie wenn die Tür offen ist, und ich sie trotzdem eintrete. Die Tür stand bereits offen und das nicht aufgrund Orbáns Kommandos!
Er sprach sich selbst das Recht und die Rolle zu, diese Forderung zu diesem Zeitpunkt auszusprechen. Und dass, obwohl unter den Organisatoren ein Einverständnis herrschte, dass diese Frage nicht an diesem Tag und nicht dort behandelt oder gelöst werden würde. Auch auf dem Platz gefiel vielen diese Rede nicht und sie kritisierten sie später. Das Ganze wäre nicht so schlimm und die Rede wäre wahrscheinlich vergessen worden, wenn heutzutage nicht ein politisches Image darauf aufgebaut werden würde. Nun aber zu behaupten, dass sie so wichtig und positiv gewesen sei – das stimmt so einfach nicht!
Welche Bedeutung hatte der Tag für Sie persönlich?
Das Wichtigste war für mich, dass mein Großvater endlich ein würdiges Grab erhielt. Auch jetzt, am 30. Jahrestag der Wiederbeerdigung ist das noch immer mein persönlicher Zugang. Aber natürlich war das auch der Tag, an dem das alte System zu Grabe getragen wurde. Wir bereiteten einen außerordentlichen Tag vor, das spürten wir damals alle. Tatsache ist, dass es in Ungarn so eine Massenveranstaltung der Opposition vorher noch nicht gegeben hat. Heute haben wir uns an solche Bilder gewöhnt, aber damals waren 250.000 Menschen eine unvorstellbar große Menge. Die inländischen Fernseh- und Radiosender übertrugen vom frühen Morgen an. Auch das Ausland und die ganze Welt blickte damals auf uns. Die ungarische Gesellschaft berührte das Ereignis zutiefst, und auch mich. Wir vermuteten dabei wahrscheinlich noch nicht, dass es dem alten System letztendlich seine Legitimation entzog.
Was passierte nach der Wiederbeerdigung?
Im Sommer 1989 wurden Imre Nagy und seine Gefährten schließlich rehabilitiert. Damit verlor die Ära Kádár ihre letzte Grundfeste, nämlich die These, dass 1956 eine Konterrevolution war, die von János Kádár mit Hilfe der Russen niedergeschlagen werden musste. Ich weiß noch, wie wir am 6. Juli zuhörten, wie das Urteil des Höchsten Gerichts über ihre Unschuld verlesen wurde, als eine kleine Notiz eintraf, dass János Kádár verstorben war. Bemerkenswerterweise verschied er genau an diesem Tag. „Imre Nagy hat ihn sicher zu sich bestellt“, reagierte jemand auf diesen seltsamen Zufall.
In den Monaten danach wurde endlich viel über die Geschehnisse von 1956 bekannt. Viele Bücher und Dokumente zu dem Thema kamen nun aus dem Westen auch bei uns an. Aber auch überall in Ungarn fingen die Menschen nun an, ihre lange verschwiegenen Erinnerungen an 1956 zu teilen. Kleine und große Geschichten darüber, was sich in unserem Land damals abgespielt hatte und was sie selbst während des Aufstands gemacht hatten.
Wie veränderte sich Ihr Leben durch den Fall des Eisernen Vorhangs?
Eine sehr überschwängliche und lebhafte Welt formte sich und wir hatten den Glauben, dass auf kurz oder lang etwas Wunderbares entstehen würde. Das Gefühl, einfach über die Dinge reden zu können, war großartig. Ich durfte endlich sagen, mit wem ich verwandt war. Viele unterdrückte Geheimnisse trugen die Menschen mit sich herum, von denen sie sich nun befreien konnten. Ich war damals 40 und begann die Dinge durch das neue Wissen anders zu verstehen. Ich versuchte dabei zu helfen, dass dieses Wissen seinen Platz bekam. Auch mit unserer Arbeit hier im Imre-Nagy-Gedenkhaus wollen wir den jüngeren Generationen, die bei den Ereignissen nicht dabei waren, dieses Wissen vermitteln.
Was bedeutet der Jahrestag für Sie heute?
Es ist immer noch schmerzlich für mich, daran zu denken, dass er an jenem Morgen seiner Hinrichtung dem Tod ganz allein ins Angesicht schauen musste. Wir konnten ihm nicht beistehen. Laut Protokoll stellte sich sein Tod nicht augenblicklich ein, sondern erst nach sieben, acht Minuten. Was passierte da in seinem Kopf? Als Politiker, als liebender Ehemann, denn er lebte in einer sehr glücklichen Ehe… So ist der 16. Juni für mich immer auch das Grauen der Hinrichtung. Der Tag der Wiederbeerdigung ist für mich nur als Trauertag möglich, auch wenn der Tag 1989 wundervoll und kathartisch war.
Was sagen Sie dazu, dass die Imre-Nagy-Statue von ihrem Platz in der Nähe des Kossuth tér, wo sie aufs Parlament blickte, auf den Jászai Mari tér an der Margaretenbrücke umgesetzt worden ist?
Schon 2010, als die Regierung verkündete, dass der Kossuth tér im Geist von vor 1945 wiederhergestellt werden solle, und damit alle späteren Statuen weichen müssen, befürchtete ich, dass dies eines Tages passieren würde. Vor 1945 stand an jener Stelle eine Gedenksäule für die Opfer der ungarischen Räterepublik von 1918/1919, die Miklós Horthy selbst eingeweiht hatte, deswegen war davon auszugehen, dass sie wieder aufgestellt werden wird.
Ich bin aber froh, dass die Statue nicht ganz verschwunden ist, denn es gab auch andere Stimmen im Parlament. Jetzt, dreißig Jahre nach 1989 sind wir wieder an einem Punkt angekommen, dass es richtig war, Imre Nagy und seine Gefolgschaft hinrichten zu lassen, denn sie waren ja Kommunisten. Damals war er nicht genug Kommunist, jetzt ist er nur Kommunist… Vor dreißig Jahren war die Wiederbeerdigung ein wunderbarer und befreiender Tag. Jetzt ist die Gesellschaft durch die Parteienpolitik gespalten. Die Jubiläen werden getrennt abgehalten. Und die historischen Ereignisse werden so ausgelegt, wie es den jeweiligen politischen Interessen dienlich ist.
Als die Politiker in den letzten Jahren begannen, Pro und Contra der Ereignisse und Anführer von 1956 für ihre aktuellen, politischen Fragen zu instrumentalisieren, setzte eine erneute Abwertung von Imre Nagy ein. Das ist traurig.
Immerhin steht die Statue jetzt dort, wo einst die von Karl Marx stand. Auch das war ein Denker; vielleicht der letzte große Denker, der versuchte, die ganze Gesellschaft grundlegend durch seine Philosophie zu erfassen. Dass das Denkmal von Imre Nagy eines Tages weichen muss, weil das von Marx zurückkommt, ist wohl nicht zu erwarten. Aber man weiß ja nie …
Was kann von 1989 für heute noch inspirierend sein?
Das ist schwierig zu sagen, denn wir wurden von unserer Vergangenheit geformt und können nicht einfach neu beginnen. Brandneue Menschen gibt es nicht. Aber 1989 haben die Menschen wirklich geglaubt, dass sie Meister ihres eigenen Schicksals werden können. Sie schufen neue Gemeinschaften und wollten bei wichtigen Landessachen mitreden. Nach über dreißig Jahren Fremdbestimmung seit 1956 war es erstaunlich zu sehen, wie die Menschen diesen Zustand der Diktatur und Unterdrückung ganz plötzlich abschütteln konnten und die Dinge wieder selbst in die Hand nahmen. Vielleicht gibt es diesen Geist auch heute noch in den Menschen und es wäre schön, noch einmal zu erleben, dass die Politik mehr ist als nur ein Zeitvertreib der oberen Schichten. Wir können – und müssen – sie formen. Ich bin schon 68 Jahre alt, aber die jungen Menschen sollten das Wort ergreifen und für ihre eigenen Entwürfe, wie sie dieses Land, diesen Kontinent und diese Erde gestalten wollen, eintreten. Wir stehen heute vor großen, weltbewegenden Fragen, die eine nationale Politik allein nicht zu lösen vermag. Ich will damit nicht sagen, dass erneut ein Aufstand ausbrechen soll, aber diesen Geist von 1989 zu reanimieren und die Verantwortung für die Gestaltung unseres Umfeldes zu übernehmen, ist vielleicht die wichtigste Botschaft, die man den historischen Ereignissen von 1989 entnehmen kann.
Katalin Jánosi wurde 1951 als Tochter von Dr. Ferenc Jánosi und seiner Frau Erzsébet Nagy, des einzigen Kindes von Imre Nagy und seiner Frau Mária Égető, geboren. Nach dem Aufstand von 1956 wurde sie mit Mutter und Bruder, sowie der Witwe von László Rajk und deren Sohn nach Rumänien deportiert. Die Rückkehr nach Budapest erfolgte 1958. 1970 schloss sie ihr Fachabitur mit einem Schwerpunkt auf Textilkunst ab. 1976 diplomierte sie im Fach Gobelin an der heutigen Moholy-Nagy-Universität. Seitdem arbeitete sie als Gobelinkünstlerin und wendete sich seit den Achtzigerjahren auch verstärkt der Malerei zu. 1987 fand ihre erste Soloausstellung in Győr statt. Die politische Geschichte ihrer Familie hat sie in der Kunst nie direkt verarbeitet. Vielmehr stellt die Kunst laut ihren Worten immer einen Rückzugsort dar, an dem sie einfach sie selbst sein kann, ohne der Geschichte oder der Familie gerecht werden zu müssen. 1997 schloss sie an der ELTE-Universität ein Zusatzstudium für kulturelles Management ab. Außerdem ist sie Kuratorin und Gründungsmitglied des Imre-Nagy-Gedenkhauses.
Imre Nagy – ein fortschrittlicher und mutiger Politiker
Vielleicht weil es schon lange her ist, vergisst man schnell, dass der Revolutionsheld Imre Nagy 1956 bereits 63 Jahre alt war. Deswegen betrifft das Wichtigste zu seiner Person natürlich nicht ausschließlich 1956 und den zehntägigen Aufstand, sondern auch die vorhergehenden Jahrzehnte.
Die Menge verlangt nach Imre Nagy
1956, als der Aufstand begann, war Imre Nagy bereits seit anderthalb Jahren im Ruhestand. Man hatte ihn schnell und auf üble Art aus allen Ämtern entfernt und aus der Partei ausgeschlossen. Warum ruft die Menge bei der Massendemonstration am 23. Oktober auf dem Kossuth tér am Parlament ausgerechnet nach ihm? Waren die Leute verrückt geworden? Sie hatten die Nase voll vom Kommunismus und wollten ihn, den Kommunisten, zurück! Warum?
Imre Nagys revolutionäre Reform-Politik von 1953 bis 1955
Nach den Jahren der Rákosi-Diktatur stand Ungarn 1953 nach Stalins Tod kurz vorm politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch. So wie es damals üblich war, bestellte man die ungarische Führungsspitze nach Moskau, und teilte ihr mit, dass es so nicht weitergehen könne. Jemand müsse das Steuer übernehmen, der – im Gegensatz zu Rákosi – in der Lage war, die Menschen zu beruhigen und Änderungen durchzusetzen, um die wirtschaftliche Lage in den Griff zu bekommen.
Ihre Wahl fiel auf Imre Nagy. Denn natürlich waren sie bestens darüber informiert, mit welchen Aktivitäten der Partei er bisher nicht einverstanden gewesen, wo er anderer Meinung gewesen war. So wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt und versuchte von 1953 bis Anfang 1955 ein sehr grundlegendes Reform-Regierungsprogramm durchzusetzen. Dies beinhaltete Neuerungen auf wirtschaftlicher Ebene, wie die Förderung der Leichtindustrie anstatt wie bisher der Schwerindustrie. Er erleichterte die Situation der Bauern, indem er ihnen den Austritt aus den Agrargenossenschaften ermöglichte und so die Privatwirtschaft förderte. Er setzte die Gulaglisten und auch die ungarischen Arbeitslager selbst außer Kraft und sprach damit 750.000 Menschen von ihrer Schuld frei, darunter auch János Kádár. Außerdem veranlasste er die Untersuchung der politischen Schauprozesse um László Rajk von 1949.
Diese anderthalb Jahre seines Wirkens führten zu einem großen Aufatmen in der ungarischen Gesellschaft. Gerade dann, als die Menschen anfingen zu glauben, dass das Land nun einen humaneren Weg einschlagen würde, meldete sich Moskau zu Wort, dass die Grenze der Reformen überschritten sei. Sie setzten Imre Nagy ab und schlossen ihn aus der Partei aus. Mátyás Rákosi erhielt seinen Posten zurück und griff jetzt noch härter durch als zuvor.
Ministerpräsident über Nacht
Am 23. Oktober 1956 erinnerten sich die Menschen an Nagys Politik und forderten ihn zurück. Er war derjenige, dem sie vertrauten und der dem Grauen vielleicht ein Ende setzen konnte. Auf dem Kossuth tér schaltete man die Lichter aus und forderte die Menschenmassen auf, den Platz zu räumen. Doch sie waren dazu nicht bereit und verbrannten stattdessen Exemplare der damaligen Parteizeitung, um sich etwas Licht zu verschaffen. Nichts half. Verschiedene Gesandtschaften tauchten bei Imre Nagy zu Hause auf und baten ihn mitzukommen.
Für ihn kam der Rückruf aus dem Ruhestand völlig unerwartet. Denn der Tag hatte mit einer friedlichen Demonstration zur Unterstützung der Polen begonnen und man rechnete nicht damit, dass daraus ein Aufstand entstehen könnte. Er begab sich dann auf den Kossuth tér, wo die Menschen ihn noch am selben Abend zu ihrem Ministerpräsidenten ernannten. In seiner anschließenden zehntägigen Amtszeit führte er das Mehrparteiensystem wieder ein. Auch Pressefreiheit und die Gründung neuer Zeitungen ermöglichte er: Jeder konnte schreiben, was er wollte und es auch herausgeben. Außerdem gab die Hoffnung auf eine Neutralität Ungarns, die von der Nagy-Regierung gefordert wurde, den Menschen einen Lichtblick, von der sowjetischen Besatzung befreit zu werden. Doch diese Hoffnung währte nicht lange: Anfang November wurde der Aufstand von den sowjetischen Truppen brutal niedergeschlagen.
Nach Katalin Jánosi