Dr. Erhard Zelmer: „In unserem Team kann sich niemand vorstellen, täglich wieder zwischen Wohnung und Büro zu pendeln.“ (Foto: Triave / Sándor Benkő)

Gespräch mit Dr. Erhard Zelmer, Experte in Sachen Home Office

Von der Option zur Obligation

Arbeiten zu Hause wurde bisher kaum und allenfalls von kleinen Firmen praktiziert. Zu groß sind bis heute die Vorbehalte in den Chefetagen von Unternehmen. Die Coronavirus-Krise zwingt auch in diesem Bereich zum Umdenken. Wir sprachen mit Dr. Erhard Zelmer, Inhaber der Kommunikationsberatung Triave Kft., der sein Unternehmen bereits vor zwölf Jahren komplett auf Home Office umgestellt hat und nun auch Firmen bei der Umstellung auf Home Office berät.

2008 war Home Office für Unternehmen noch kein Thema. Wie kamen Sie zu jener Zeit auf diese Idee?

Nicht ganz freiwillig. Die Krise 2008 schlug rasch in jene Branchen ein, in denen wir unsere größten Kunden hatten: Automobil und Tourismus. Ich musste die Kostenbremse ziehen, kündigte unseren Mietvertrag, teilte die Bürotechnik auf meine Mitarbeiter auf und schickte sie nach Hause. Wir sind in unsere Home Offices gezogen und fühlen uns noch immer ganz wohl dort. Die Situation, die dazu führte, war also so ähnlich wie heute, auch wenn der konkrete Auslöser diesmal ein anderer ist.

Wie haben denn Ihre Kunden auf einen Partner reagiert, der nicht mal ein Büro hat? Immerhin können Sie ja keine Kundenberatungen in Ihrer Agentur durchführen.

Da unser Workflow weiterhin funktionierte hat das niemanden sonderlich interessiert. Beratungen führen wir bis heute bei unseren Kunden durch. Auf diese Weise bekommt man stets einen frischen und authentischen Eindruck vom Arbeitsumfeld des Kunden. Die operative Zusammenarbeit mit den Kunden wird ohnehin wie allgemein üblich hauptsächlich digital abgewickelt.

Innerhalb unserer Agentur gibt es so gut wie keine Team-Meetings, die Kommunikation verläuft fast ausschließlich bilateral. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass der direkte Kontakt zwischen den jeweiligen Projektbeteiligten sehr viel Zeit spart. Ich verschweige auch nicht, dass ich im Laufe meines Arbeitslebens eine gewisse Meeting-Allergie entwickelt habe – Home Office kommt mir da sehr entgegen (lacht).

Hatten Sie nie das Bedürfnis, nach der damaligen Krise wieder ein standesgemäßes Büro mit Ihren Mitarbeitern zu beziehen? Wie kann man sich denn Teamgeist vorstellen, wenn jeder an einem anderen Ort sitzt?

Nein und auch in unserem Team könnte sich niemand vorstellen, täglich wieder zwischen Wohnung und Büro zu pendeln. Unsere Projektkoordinatoren wohnen in Pilisvörösvár, der Senior Art Director in Budapest, einer der Artdirektoren arbeitet abwechselnd in Székesfehérvár und Budapest, der andere mehrere Wochen im Jahr in Brüssel, ich selbst lebe und arbeite in Budaörs. Wir treffen uns sehr selten, dennoch sind wir ein wunderbar eingespieltes Team und haben ein ausgesprochen offenes und freundliches Verhältnis zueinander, auch in Zeiten, in denen großer Arbeitsdruck herrscht.

Teamgeist hängt nicht von der Nähe der Schreibtische zueinander ab, sondern vielmehr von der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter. Letzteres ist der entscheidende Faktor für den Erfolg von Home Office. Das bestätigen auch Studien zu diesem Thema (siehe Infobox). Ich führe seit fünf Jahren Teambuildings durch. Meine erste Frage ist oft, auf wie viel Büros die Teilnehmer am Arbeitsplatz verteilt sind. Räumliche Nähe und eine hohe arbeitsbedingte Kontakthäufigkeit bilden nicht selten auch ein großes Konfliktpotenzial unter Mitarbeitern. Dieses Problem hat man im Home Office logischerweise nicht.

Das hört sich so an, als wenn die klassische Bürokultur in Unternehmen ausgedient hat.

Darüber möchte ich nicht spekulieren, aber Home Office wird in Zukunft sicher in vielen Branchen eine gleichwertige Alternative zur Arbeit im Büro sein. Die jetzige Krise trägt vielleicht zusätzlich zu dieser Entwicklung bei, weil es für die Unternehmen unter den aktuellen Umständen leider keine andere Option gibt, als weitgehend auf Home Office umzustellen. Wir bekommen jedenfalls in den letzten Tagen verstärkt Beratungsanfragen und bereiten Drehbücher für die Umstellung auf Home Office vor. Die Unternehmen haben keine Zeit mehr, sich mit diesem Thema schrittweise vertraut zu machen. Sie sind gezwungen, die Mitarbeiter nach Hause zu schicken und dennoch die Kommunikation mit und unter ihnen am Laufen zu halten. Die Voraussetzungen dafür sind eigentlich gegeben, denn Home Office ist ein Kind unserer digitalisierten Welt. Nur muss man zügig Vorbehalte abbauen, um das Potenzial des Home Office-Prinzips im Interesse des Unternehmens und seiner Mitarbeiter voll ausschöpfen zu können.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Hemmnisse für die Einführung von Home Office in Unternehmen?

Die größte Herausforderung für die Chefetagen besteht darin, Kontrollverlust-Ängste abzubauen. Dazu muss man zunächst verstehen, dass Home Office kein Outsourcing von Schreibtischen ist. Ihm liegt eine völlig andere Arbeitskultur und -mentalität zugrunde. Die entscheidenden Kontrollfaktoren sind hier nicht die regulären Arbeitszeiten, sondern die Gewährleistung der Erreichbarkeit und die Arbeitsergebnisse.

Wenn man den Focus auf diese Dinge lenkt, dann stößt man mitunter auf ein scheinbares Paradoxon: Im Home Office kann man sich nicht so leicht vor der Arbeit wegducken wie im Büro. Ein ehemaliger Schulfreund, der in einer Bundesbehörde in Berlin arbeitet, erzählte mir mal recht süffisant, dass er zweimal am Tag mit einem großen Stapel Dokumente unter dem Arm im Eiltempo über den langen Behördenflur hin und nach ein paar Minuten wieder zurückläuft und alle denken, der er viel zu tun habe und von einer Beratung zur anderen hetzen müsse. Das mag ein extremes Beispiel sein und entspricht auf keinen Fall der Arbeitsmoral der überwiegenden Mehrheit der Arbeitnehmer, aber es zeigt, dass Sichtkontakt kein Kriterium für die Arbeitsbewertung sein kann. Folglich ist auch die Skepsis gegenüber Home Office unangebracht.

Ein weiteres Hemmnis scheint mir der Neid der Büromitarbeiter gegenüber Kollegen zu sein, die im Home Office arbeiten. Dies beruht auf der falschen Annahme, dass Arbeiten zu Hause einfach recht easy ist. Man hat keine Vorstellung davon, dass Home Office in jedem Fall mehr Arbeitsstunden und mehr Stress bedeutet (siehe Studie der AOK). Weitere Einwände wie instabile digitale Infrastruktur, fehlende Datensicherheit oder mangelnde Einbindung ins Team sind letztendlich nur Scheinargumente. Das kann lässt sich alles ohne großen Aufwand lösen.

Mehr Arbeitsstunden und mehr Stress – weshalb sollte man sich dann für Home Office entscheiden?

Dem stehen mehr Autonomie in der Gestaltung der Tagesabläufe, mehr Entscheidungsfreiheit und damit eine höhere Selbstmotivation und Arbeitszufriedenheit gegenüber. Das sind für ein Unternehmen neben den geringeren Arbeitsplatzkosten nicht zu unterschätzende Faktoren, die in einer höheren Arbeitsleistung münden. Geringere Fehlzeiten sind ebenfalls ein belegbarer Grund, der für Home Office spricht. Ich habe in den vergangenen zwölf Jahren nur eine einzige Krankschreibung meiner Kolleginnen gesehen, obwohl beide Projektkoordinatorinnen jeweils zwei Kinder haben. Sie gehen mit den Kids zum Arzt, erledigen die dafür notwendigen Besorgungen und arbeiten danach weiter – manchmal sogar entgegen meiner Empfehlung. Eine Mutter mit kranken Kindern kehrt nach dem Arztbesuch hingegen nicht ins Büro zurück. Home Office bringt eine hohe Arbeitsmoral und Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber hervor. Es spricht für sich, dass Home Office zwar mehr Stress im Arbeitsalltag mit sich bringt, aber dennoch keiner zurück in den Büroalltag will.

Was sind denn die Gründe dafür, dass der Stresspegel bei der Arbeit zu Hause offensichtlich höher liegt?

Man ist stärker bereit, für mehr Flexibilität in der Gestaltung des Arbeitsalltages und für den Verzicht auf das Pendeln zwischen Wohnung und Büro Kompromisse einzugehen. Mitarbeiter im Home Office neigen dazu, Erholungsphasen zu reduzieren, durch private Angelegenheiten verlorene Zeiteinheiten mehr als nötig zu kompensieren und Projekte auch am Abend weiterzuführen.

Ich habe kürzlich versucht zu erfassen, wie viele projektbezogene E-Mails meine Kollegen im letzten Jahr nach 20 Uhr abgesetzt haben. Bei 200 habe ich aufgehört zu zählen – die Anzahl verbuchten wir bis August. Seit einigen Monaten häufen sich auch Projektaufträge, die an Freitagnachmittagen reinkommen und am Montag zu liefern sind – das bedeutet Wochenendarbeit. Im Grunde führen wir selbst unsere Kunden durch diese maximale Flexibilität im Workflow in Versuchung, unsere Leistungsbereitschaft vor allem bei Zeitdruck über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Die psychische Belastung ist also zweifellos höher im Home Office und die Vorgesetzten stehen in der Verantwortung, das Arbeitspensum ihrer Mitarbeiter im Auge zu behalten und Dauerbelastungen zu vermeiden.

Welche Empfehlungen können Sie Unternehmen geben, die sich mit dem Gedanken tragen, Home Office einzuführen?

Das Führungspersonal sollte dies gemeinsam mit ausgewählten Mitarbeitern selbst ausprobieren – drei Tage pro Woche, einen Monat lang. Es gibt Unternehmen, die mit einem Tag Home Office pro Woche beginnen. Ich würde mutiger sein, zumal sich ein Tag Home Office pro Woche für mich eher wie ein Tag Urlaub anhört. Man muss die Gelegenheit erhalten, in den für Home Office typischen Arbeitsrhythmus zu kommen. Das schafft man besser an mehreren aufeinanderfolgenden Arbeitstagen. Nach dieser Erprobungsphase zieht man Bilanz und bündelt die Erfahrungen hinsichtlich Kommunikation, Arbeitspensum, zeitliche Belastung usw. zu Regeln für den Workflow. Ich habe keinen Zweifel, dass so ein Versuch Appetit auf mehr Mitarbeiter im Home Office macht.

Ausgewählte Ergebnisse aus Studien zum Home Office

Vorteile:

  • stärkere Selbstmotivation durch mehr Autonomie
  • größere Entscheidungsfreiheit und Mitspracherechte bei der Arbeitsgestaltung
  • passgenauere, individuellere Einteilung der Arbeitszeiten
  • Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben fließender gestaltbar
  • 67,3 % können zu Hause mehr Arbeit bewältigen
  • 73,7 % können konzentrierter arbeiten
  • fast jeder zweite Mitarbeiter im Home-Office empfindet den Arbeitsaufwand als genau richtig
  • geringere Fehltage
  • Mitarbeiter im Home-Office sind bemüht, verlorene Arbeitszeiten, zum Beispiel durch Krankheit von sich aus wieder auszugleichen
  • größere Arbeitszufriedenheit, mehr Lebensqualität

Nachteile:

  • Stärkere psychische Belastung kann unter Umständen zu Erschöpfung, Konzentrationsproblemen und Schlafstörungen führen.
  • starke Neigung, Erholungsphasen zu schrumpfen und auch in den Abendstunden zu arbeiten Tendenz zur Dauerbelastung

Quellen:

Arbeiten im Homeoffice: Höhere Arbeitszufriedenheit, aber stärkere psychische Belastungen, Befragung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), September 2019

Experiment Home-Office – eine Bilanz nach zwei Jahren

impulse.de/management/personalfuehrung/erfahrungen-mit-homeoffice

 

Grundvoraussetzungen und Empfehlungen für Home Office

1. Digitale Infrastruktur sichern:

  • Zugriff auf Unternehmensnetzwerk
  • schneller Internetzugang, möglichst durch mobile Router
  • schnelle Laptops mit genügend Speicherkapazität
  • Datensicherheit (Firewalls, evtl. separate Sicherheitscloud zur Datenspeicherung)
  • Smartphones und Telefonverträge mit ausreichend großer Datenkapazität

2. Kommunikation:

  • ständige Erreichbarkeit der Projektbeteiligten
  • Meetings via Skype
  • cc-Modus bei allen Mails für Transparenz im Workflow
  • kleine Projekteinheiten bilden
  • Schnellinformations- und Feedback-Modi zwischen den Projektbeteiligten absprechen

Dr. Erhard Zelmer lebt seit 1996 in Ungarn. Er ist Inhaber der Kommunikationsagentur Triave Kft., die sich mit Verkaufsförderung, Personaltraining, Teambuilding und Home Office-Beratung beschäftigt.

www.triave.hu

Kontakt für Unternehmen, die sich aktuell für eine Beratung zum Thema Home Office und Krisenmarketing interessieren:

Dr. Erhard Zelmer, Geschäftsführer: e.zelmer@refocus.de

Ildikó Szilágyi, Assistentin der Geschäftsführung: szilagyi@triave.hu

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