Erneute umfassende Einreisebeschränkungen
Chronik einer scheinbar undurchdachten Entscheidung
„Ungarn kehrt angesichts steigender Infektionszahlen zu den Regelungen der ersten Corona-Welle zurück: Ab dem 1. September dürfen Ausländer nur noch mit einem triftigen Grund nach Ungarn einreisen.“ Das gab Kanzleramtsminister Gergely Gulyás auf der Regierungspressekonferenz am vergangenen Freitag bekannt. Er hielt diese ab, nachdem er sich selbst zweimal negativ auf Corona testen lassen musste. Nicht berührt von den Einreisebeschränkungen sind Militärkonvois, Diplomaten, Geschäftsreisende, Pendler im Umkreis von 30 km zur Grenze und Transitreisende unter Nutzung des sogenannten humanitären Korridors, hieß es weiter. Die bisher geltende Ampelregelung mit Abstufungen zwischen grün, gelb und rot verlor dementsprechend ihre Gültigkeit.

Aus dem Ausland heimkehrende Ungarn sowie Auslandsstudenten müssen in jedem Fall in eine 14-tägige Quarantäne, sofern sie nicht zwei Negativ-Tests vorlegen können. Diese beiden Tests müssen in Ungarn durchgeführt werden, ausländische Tests werden nicht länger akzeptiert. Die Kosten der Tests muss jeder selbst tragen, mit Ausnahme von Personen, die nicht im Ausland waren und aufgrund der Kontaktforschung getestet werden. Für Sportveranstaltungen gelten – auch das ließ der Minister nicht unerwähnt – Sonderregeln. Im Amtsblatt vom Sonntag wurden die neuen Reisebeschränkungen detailliert dargelegt. Demnach fallen unter den gleichen Status wie ungarische Staatsbürger auch alle Personen mit Daueraufenthaltsrecht und deren Familienangehörige.
Maßnahmen gelten mindestens einen Monat
„In Europa hat die zweite Infektionswelle eingesetzt, die Tagesinfektionszahlen erinnern an Ende März, Anfang April. Ungarn befindet sich noch in einer relativ guten Lage, im Vergleich zu den Juli-Daten ist jedoch auch hierzulande ein Anstieg feststellbar. Es besteht die Gefahr, dass das Virus vermehrt eingeschleppt wird. Deswegen sind Maßnahmen erforderlich, die Arbeitsplätze und Senioren sichern sowie einen gesicherten Schulanfang gewährleisten können. Wenn wir die Grenzen schließen sowie die Maßnahmen wie Maskenpflicht und Mindestabstand einhalten, können wir das Virus eindämmen“, erklärte Gulyás. Die jetzt festgelegten Maßnahmen werden mindestens einen Monat lang gelten. Bis dahin wird die Auswertung der Nationalen Konsultation abgeschlossen sein und können neue Maßnahmen in Erwägung gezogen werden. Eine Einschränkung der Einkaufszeiten zu Gunsten der Senioren wie im Frühjahr beziehungsweise Ausgangsbeschränkungen stünden derzeit nicht auf der Tagesordnung.
Zum UEFA-Supercup-Finale Bayern München gegen Sevilla am 24. September in der Puskás-Arena Budapest stellte Gulyás klar, nur jene Fans und Spieler dürften nach Ungarn kommen, die Negativ-Tests vorweisen können. Das für 64.000 Zuschauer ausgelegte Stadion wird aufgrund einer Entscheidung der UEFA nur zu einem Drittel besetzt sein – jeder dritte Sitzplatz bleibt frei. Wegen der aktuell wieder rasant steigenden Zahlen bei den Neu-Infektionen sind die UEFA-Pläne von einer schrittweisen Fan-Rückkehr allerdings in Gefahr. So wurden in Ungarn am Sonntag 292 neue Corona-Infektionen binnen 24 Stunden vermeldet, der höchste Tageswert seit Beginn der Pandemie hierzulande. Dieser Rekord hatte aber nur bis zum Mittwoch Bestand, als an einem einzigen Tag 365 neue Fälle erfasst wurden.
Tschechisches Modell für V4
In Tschechien wurden am Dienstag mehr als 500 Infektionen erfasst – auch das ein neuer Landesrekord. Tschechien ist insofern relevant, weil Ministerpräsident Andrej Babis ein internationales Forum am Wochenende im slowenischen Bled nutzte, um bei seinem ungarischen Amtskollegen Viktor Orbán eine erste Ausnahmeregelung für seine Landsleute zu erstreiten. Dem ebenfalls vor Ort weilenden Außenminister Péter Szijjártó oblag die Aufgabe, das Abrücken von der strikten Regelung der Grenzschließung zu erklären. Also schrieb er am Spätnachmittag auf Facebook, im Besitz eines negativen, maximal fünf Tage alten Tests dürften tschechische Bürger auch im September nach Ungarn einreisen. Andrej Babis trug diese Bitte während des Forums an Viktor Orbán heran. Im Interesse der Tschechen, die bereits Urlaubsplätze in Ungarn gebucht hatten, erfüllte Orbán sie. „Beim Aushandeln der neuen Regelung haben wir die benötigten Sicherheitsgarantien erhalten“, schrieb Szijjártó.

Nur wenige Stunden hatte die verblüffende Ausnahmeregelung für die Tschechen Bestand, dann ließ das Außenministerium in einer offiziellen Stellungnahme mitteilen, auch Polen und Slowaken dürften im Besitz eines negativen Tests weiterhin nach Ungarn einreisen. Szijjártó habe sich mehrmals persönlich beim Strategischen Forum in Bled sowie später telefonisch mit den Partnern abgestimmt und danach das „tschechische Modell” auf die anderen beiden V4-Staaten ausgedehnt. Auch für Ungarn, die bereits Unterkünfte für den Herbst in Tschechien, der Slowakei oder Polen gebucht hatten, reicht demnach bei ihrer Heimreise ein einziger Negativ-Test aus.
Einreisebeschränkungen verstoßen gegen EU-Recht
Während das idyllische Bled zum Schauplatz eines sagenhaften diplomatischen Gemauschels wurde, meldete sich endlich auch die Europäische Kommission zu Wort. Die wegen der Corona-Krise durch Ungarn verfügten Einreiseverbote für andere EU-Bürger seien aus Sicht der Kommission nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar. Dass es Ausnahmen für Bürger aus Polen, der Slowakei und Tschechien gebe, sei ein klarer Hinweis auf Diskriminierung, verlautete am Dienstag aus Brüssel. Die zuständigen EU-Kommissare Didier Reynders und Ylva Johansson wandten sich in einem Brief an die ungarische Regierung, in dem sie die sofortige Rücknahme aller gegen die Grundprinzipien des EU-Rechts verstoßenden Maßnahmen fordern.
Am Dienstag traten die verschärften Reisebedingungen in Kraft, um die Ausbreitung der zweiten Corona-Welle einzudämmen sowie Gesundheit und Arbeitsplätze der ungarischen Bürger zu schützen. Ausgenommen von den Reisebeschränkungen sind etwa Berufspendler, wenn sich Wohnort und Arbeitsort innerhalb von 30 Kilometern zur Grenze befinden. Allerdings ist die Einreise auf die Dauer von 24 Stunden beschränkt – dagegen protestierte am Dienstag die Österreichische Wirtschaftskammer. Zusätzlich benötigt man ein entsprechend ausgefülltes Formular.
Dass es in der Praxis aufgrund der lebensfremden Regeln anders ausschaut, hat sich gleich am ersten Morgen an den Grenzübergangsstellen erwiesen: Aufgrund kilometerlanger Staus an der ungarisch-slowakischen Grenze bei Komárom und Esztergom kontrollierten die Grenzpolizisten Autofahrer nur noch stichprobenartig beziehungsweise verlangten von den Pendlern weder das obligatorische Einreiseformular noch fragten sie nach Aufenthaltsort oder -zeit. Für die Aufstauung der Pendler im kleinen Grenzverkehr sorgte auch das rabiate Abriegeln kleinerer Grenzübergangsstellen; viele Ungarn müssen nun große Umwege in Kauf nehmen. Die Behörden setzten das neue Grenzregime eiligst um, indem sie kleinere Übergänge mit tonnenschweren Betonelementen für den Fahrzeugverkehr blockierten.
Helfen die Einreisebeschränkungen?
Die strengen Maßnahmen hatte der Kanzleramtsminister vorige Woche unter anderem mit den Worten gerechtfertigt, „die größte Gefahr“ gehe davon aus, dass das Virus aus dem Ausland eingeschleppt wird. Ergo würden geschlossene Grenzen helfen, die Ausbreitung einzudämmen. Diese Aussage unterstrich der Rektor der Semmelweis-Universität, als er am Sonntag das Reiseverhalten der Ungarn kritisierte. Professor Béla Merkely sagte dem privaten TV-Sender RTL Klub: „Wir hätten dieses Jahr durchstehen können. Die meisten Familien konnten verzichten, aber viele andere, wahrscheinlich Hunderttausende, mussten unbedingt Urlaub im Ausland machen. Diese Leute haben dazu beigetragen, dass die zweite Welle bei uns nun drei, vier Wochen früher beginnt, als wir erhofft hatten.“
Der Rektor erläuterte, die Menschen hätten diesen einen Sommer besser im Inland bleiben sollen, gerade wenn das Coronavirus in anderen Ländern ein Vielfaches der ungarischen Infektionszahlen generierte. Der Experte beanstandete aber auch, dass Kroatien bis zuletzt im „grünen“ Status verblieb, obgleich die Fallzahlen ähnlich anstiegen, wie in Rumänien. Grün bedeutete aber, keinerlei Kontrollen durch die Behörden zu unterliegen. Die in der Kontaktforschung ohnehin heillos überfordert waren, wie gehäufte Berichte von Betroffenen zeigen. Dass etliche Regierungsmitglieder ihren Sommerurlaub in Kroatien zubrachten, unterschlug Merkely im Fernsehen geflissentlich.
Merkely: “Weniger als ein Zehntel der neuen Fälle hängen mit Auslandsreisen zusammen”
Derweil schätzt der Mathematiker Gergely Röst von der Universität Szeged die sogenannte Reproduktionszahl des Coronavirus hierzulande auf 2-2,5. Der wie Merkely zum Beraterstab von Ministerpräsident Viktor Orbán gehörende Experte erklärte im Interview für das Wirtschaftsportal portfolio.hu, der Wert sei schon seit geraumer Zeit deutlich über 1 gestiegen, das aktuelle Niveau sei „sehr gefährlich“. Er stellte zudem klar, im Gegensatz zu den Juli-Zahlen hingen im August weniger als ein Zehntel der neuen Fälle mit Auslandsreisen zusammen. Diese Einschätzung teilte die Chefepidemiologin des Innovationsministeriums, Beatrix Oroszi. Ihre Untersuchungen hätten gezeigt, dass das lange Feiertagswochenende von 20. August die Wende im ungarischen Infektionsverlauf ausgelöst habe. Die Effizienz von Grenzschließungen sei deshalb fraglich.
Führende Epidemiologen des Landes forderten auf einer Fachberatung zu Beginn der Woche die Fortsetzung der im Frühjahr durchgeführten Tiefenforschung H-UNCOVER. In diese Untersuchung von vier Universitäten mit dem Statistikamt konnten letztlich weit über zehntausend Testpersonen einbezogen werden. Die Studie zeigte Mitte Mai, als weniger als 2.500 Ungarn aktiv an Covid-19 erkrankt waren, eine auf 56.500 Personen geschätzte Durchseuchung der Gesellschaft an. Derzeit warten die Forscher auf die Bereitstellung staatlicher Gelder für die Fortsetzung der Studie, die der Regierung wissenschaftliche Belege zur Rechtfertigung ihrer Schutzmaßnahmen an die Hand geben könnte.
Mit den auf bis zu fünftausend pro Tag intensivierten Tests bessert sich allmählich die von Anbeginn auffällig hohe Mortalitätsrate des Coronavirus in Ungarn: Bis Mittwoch waren 619 Todesopfer zu beklagen, bei mehr als 6.600 Infektionsfällen, die im Zuge von annähernd 440.000 Tests aufgedeckt wurden. Mit 2.100 Personen gibt es derweil mehr aktive Fälle, als beim ersten Corona-Höhepunkt Anfang Mai. Das Gesundheitswesen ist dessen ungeachtet weit von einer Überlastung entfernt, denn in Kliniken werden weniger als einhundert Patienten behandelt, unter denen nur sieben an Beatmungsgeräte angeschlossen sind.