Historische Gebäude vom Abriss bedroht
Revolutionäre, Esoteriker, Kartenspieler und Schnitzel
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Noch bis vor zwei Jahren befand sich an der Ecke von Király und Kazinczy utca einer der legendärsten Pubs, den das an Ausgehmöglichkeiten nicht arme Budapester Partyviertel zu bieten hatte. Bei Tageslicht kaum als ein solcher zu erkennen, war es Teil des Charmes dieses alteingesessenen Etablissements, dass es draußen kein Schild gab, keine Neonreklame, die darauf hinwies, welches Bier hier gezapft wird, ja nicht einmal ein Name zierte dieses Lokal.
Freie Namenswahl
So gesehen, befeuerte auch sein Besitzer – selbst eine Art Budapester Legende – den Mythos, der sich ohnehin schon um dieses seltsam niedrige Gebäude, in dem einst Geheimgesellschaften tagten, rankte. Nur wer schon mal da war, wusste, was sich im Inneren abspielte. Da es kein Namensschild gab, waren selbst Stammgäste manchmal unsicher, wie sie die Bar nennen sollten. Manche nannten sie nur die Wiener-Schnitzel-Bar nach den köstlichen auf Brot servierten Leckerbissen, die hier bis spät in die Nacht zu Bier oder Wein gereicht wurden. Andere nannten sie auch das Kartenhaus und bezogen sich damit auf eine Gedenktafel neben dem Eingang.
Die jedoch, die schon länger hier ein- und ausgingen oder einfach alt genug waren, um sich an die Eröffnung zu erinnern, kannten ihren offiziellen Namen: Szent Jupát, nach dem erfundenen Heiligen der Kanuten. Doch die meisten Leute nannten die Bar schlicht und einfach Wichmann, nach ihrem Besitzer, dem früheren Kanu-Weltmeister Tamás Wichmann.
Unter den vielen – manchmal geschmacklosen – Ruinenbars des Viertels war das Wichmann sicherlich ein einzigartiger Anblick, da es einer der wenigen Pubs in Budapest war, der über Jahrzehnte hinweg sein ursprüngliches Aussehen und seine ursprüngliche Atmosphäre bewahren konnte.
Die Geburtsstätte eines revolutionären Kartenspiels
Doch die Geschichte des Wichmann-Hauses ist älter noch als der Kanute selbst und beginnt vor fast 200 Jahren. 1834 kaufte József Schneider das Gebäude und richtete darin seine Spielkarten-Manufaktur ein. Hier entwickelte er sein wichtigstes und bis heute weithin bekanntes Produkt: die Magyar kártya. Schneider wollte ein Zeichen des ungarischen Widerstands gegen die Unterdrückung durch die Habsburger setzen. Die Illustration der Karten mit ungarischen Volkshelden und Widerstandskämpfern hätte die Zensur jedoch vereitelt.
So bebilderte er das Ungarische Blatt, welches auch unter dem Namen Doppeldeutsches Blatt bekannt ist, mit Persönlichkeiten aus der Wilhelm-Tell-Sage. Auch hier ging es schließlich um den Freiheitskampf gegen die habsburgische Tyrannei. Neu an Schneiders Karten war auch die an der Mittelachse gespiegelte Darstellung der Figuren. Die Spielkarten erfreuten sich bald so großer Beliebtheit, dass in den 1860er-Jahren die renommierte Wiener Spielkartenfabrik Piatnik ebenfalls mit der Herstellung begann. Piatnik verkaufte derart viele Ausgaben, dass man bis 1974 weithin annahm, das Original stamme aus Wien. Eine Entdeckung in einer englischen Privatsammlung führte jedoch zu József Schneider und seiner Kartenmanufaktur im Wichmann-Haus.
Tummelplatz der literarischen Elite
1869 ging das Gebäude in den Besitz von Mór Rothauser über, der an dieser Stelle nach einigen Renovierungen ein Kurzwarengeschäft eröffnete. Nach seinem Tode vermietete sein Sohn Mór Rothauser Jr. die Immobilie an Cecilia Fischer, eine Dame von fragwürdigem Ruf, die darin bald eines der beliebtesten Bordelle von ganz Pest betrieb. Das Etablissement beschäftigte rund ein Dutzend Freudenmädchen, die in der ganzen Stadt nicht nur für ihre Schönheit bekannt waren, sondern auch dafür, dass sie sich sogar zweimal in der Woche badeten. Und so war es wohl auch keine Überraschung, dass sich unter den Stammkunden dieses anspruchsvollen Lokals einige der bekanntesten ungarischen Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts fanden. Unter anderen Endre Ady, Mór Jókai und Gyula Krúdy frequentierten das Freudenhaus.
Sitz der Theosophen
Nachdem das Bordell 1906 aufgrund des Todes von Frau Fischer seine Tore geschlossen hatte, wurde das Gebäude zum Hauptsitz einer geheimnisumwitterten Organisation: der Ungarischen Theosophischen Gesellschaft. Die okkulte Gruppe war Teil einer internationalen Bewegung, die gegründet worden war, um eine Brücke zwischen den religiösen Lehren des Ostens und des Westens zu schlagen.
Durch ihre Arbeit wurden viele östliche Religionen – darunter der Buddhismus – in der westlichen Gesellschaft bekannt, darüber hinaus galt ihr Interesse alten westlichen Mysterien wie der Kabbala, der Alchemie und dem Gnostizismus. Noch heute zieren Symbole aus dieser Zeit die Fassade des Wichmann-Hauses. Die Theosophen brachten an der Tür ein schmiedeeisernes Schild an, das aus einem Ankh – dem ägyptischen Kreuz –, einem Davidstern und einem Hakenkreuz besteht. Diese Zeichenkonstellation hatte jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine andere Bedeutung als heute. Anders als die Symbole wurde jedoch die Originalinschrift der Theosophischen Gesellschaft, die Maxime „Keine Religion ist höher als die Wahrheit“, entfernt.
Nachdem die Theosophen 1914 ausgezogen waren, wurde das Haus für eine Vielzahl von Zwecken genutzt. Unter anderem hatten hier ein Modegeschäft, eine Milchbar und eine Firmenkantine ihren Sitz. Wirkliche Bekanntheit erlangte das Gebäude aber erst, als es 1986 von Tamás Wichmann gekauft wurde.
Das Szent Jupát – Bar und Hauptquartier der Revolutionäre
Wichmann war damals bereits eine Ikone der ungarischen Sportgeschichte: Der neunmalige Sieger der Kanu-Sprint-Weltmeisterschaften holte bei Olympischen Spielen zweimal Silber und einmal Bronze. Die Ungarischen Kanu-Meisterschaften gewann der Mann mit dem markanten Schnauzer ganze 37 Mal. 1979 wurde Wichmann zum Ungarischen Sportler des Jahres gekürt.
Als Wichmann in den 80ern seine Karriere an den Nagel hängte und seine eigene Bar eröffnete, landete er damit einen Volltreffer. Studenten, Künstler und verschiedenste Intellektuelle gingen bei ihm ein und aus. Alle erzählten sich von dem warmherzigen Besitzer und seinen beiden riesigen deutschen Schäferhunden.
Bald wurde das Szent Jupát, wie Wichmann es taufte, die Stammkneipe vieler Bohemiens. Ende der 80er-Jahre bezogen einige systemkritische Organisationen sogar das Obergeschoss des Gebäudes – mit Wichmanns Wissen und Zustimmung. Hier operierten Piratenradiosender und Untergrundzeitungen, die allesamt darauf hinarbeiteten, der kommunistischen Herrschaft in Ungarn ein Ende zu bereiten.
Sogar eine politische Partei gründete sich unter dem Dache des Wichmann-Hauses. Die Pató-Pál-Partei, die sich nach einer Figur in einem Gedicht über das Aufschieben von Aufgaben benannt hat. Darin heißt es stets: „Morgen ist auch noch Zeit dafür.“ Vielleicht auch aus diesem Grund gelang es der Partei bisher nicht, größere Erfolge zu feiern.
Doch Wichmann tat mit seiner Bar mehr, als nur Bier auszuschenken und Schnitzelbrötchen zu verkaufen – die in den späten 80ern und frühen 90er-Jahren übrigens das einzige warme, frisch zubereitete Essen waren, das es in der Budapester Innenstadt nach Mitternacht zu kaufen gab. Der Gastronom unterstützte auch die Nachbarschaft und setzte sich dafür ein, dass das geschichtliche Erbe des Hauses für die Nachwelt erhalten blieb.
In einem Dokumentarfilm über den berühmten Sportler und seine ikonische Kneipe erzählt dessen Sohn, Ákos Wichmann, dass sein Vater Anfang der 90er dafür gekämpft habe, dass auf dem Nachbargrundstück des Hauses statt eines Immobilienprojekts ein Spielplatz entstand. Wichmann installierte darüber hinaus eine Gedenktafel an der Fassade seines Hauses, zu Ehren von József Schneider und seines berühmten Kartenspieles. Jedes Jahr organisierte er zudem eine kleine Feierlichkeit aus diesem Anlass.
Öffentliche Empörung über Abrisspläne
Nach vielen Tausend feuchtfröhlichen Abenden gab Tamás Wichmann, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit Längerem erkrankt war, die Bar schließlich 2018 auf. Nur zwei Jahre später, am 12. Februar 2020 verstarb der legendäre Kanute. Trotz des heruntergekommenen Interieurs und des unbequemen Mobiliars, werden alle, die das berühmtberüchtigte Wichmann einmal besucht haben, es in guter Erinnerung behalten. Es mag daher auch nicht überraschen, dass der Nachricht über mögliche Abrisspläne eine Welle der öffentlichen Empörung folgte.
Verstärkt wurden die Reaktionen auch dadurch, dass die Öffentlichkeit bereits durch einen ähnlichen Fall in Buda sensibilisiert war. Denn neben dem Wichmann-Haus lief auch das altehrwürdige Veranstaltungshaus Márványmenyasszony Gefahr, der Abrissbirne zum Opfer zu fallen. In dem Gebäude im I. Bezirk befindet sich eines der ältesten Restaurants der Stadt. Seit 1793 war das Márványmenyasszony durchgehend für seine Gäste geöffnet. In seinen besten Zeiten galt es als so exklusiv, dass sogar zwei der bekanntesten historischen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts dort ihre Hochzeit feierten: Graf István Széchenyi und Baron Miklós Wesselényi.
Dabei behielt das einstöckige Gebäude bis heute sein ursprüngliches Aussehen und seine historische Atmosphäre bei. Bei Touristen und Einheimischen war es dafür gleichermaßen beliebt.
Nach den Abrissmeldungen fluteten Hunderte Posts die sozialen Medien, in denen sich Bürger gegen die Zerstörung der beiden ikonischen Gebäude aussprachen. Das besondere daran: In ihrem Wunsch, diese lieb gewonnenen Unikate der Großstadtlandschaft zu erhalten, kamen – für Ungarn eine Seltenheit – Menschen aus allen politischen Lagern zusammen. Viele Lokalpatrioten trieb dabei die Angst um, dass der Abriss von Altbausubstanz und der Neubau eines weiteren Hotels oder Bürohauses das einzigartige Profil der jeweiligen Gegend zu sehr verändern würde.
Als abschreckendes Beispiel führten viele das Beispiel des Corvin-Viertels an, wo nach Beendigung der sogenannten „Rehabilitation“ kaum mehr etwas wiederzuerkennen war. Das Endergebnis könne so in jeder beliebigen Stadt der Welt zu finden sein, lautet eine häufige Beschwerde. Viele betonten darüber hinaus die einzigartige Struktur der Budapester Innenstadt mit ihren vielen historischen Gebäuden, die sich über eine große Fläche verteilen. Die Leute befürchten: Wenn jedes Gebäude in ein Hotel verwandelt wird, bleibt dann noch genug Sehenswertes in Budapest übrig, das einen Besuch wert ist?
Und obwohl aufgrund der Pandemie Demonstrationen beinahe unmöglich sind, warnten viele zivile Organisationen, dass sie diese Gebäude nicht kampflos aufgeben würden. Dóra Garai, Präsidentin der Élhető Erzsébetvárosért Egyesület (dt.: Gesellschaft für ein lebenswertes Erzsébetváros), sagte bei einer Pressekonferenz: „Wir sind bereit, alles Notwendige zu tun, um diese Häuser zu retten.“
Die bürokratische Situation ist jedoch komplizierter als es scheint, wie der Bürgermeister des VII. Bezirks, Péter Niedermüller (DK), gegenüber RTL News erklärte: Nur die entsprechende Regierungsstelle könnte in diesen Fällen eine Entscheidung treffen, da die Kommunen ihr Recht auf Widerruf bereits erteilter Abbruchgenehmigungen verloren hätten. Da aber auch das Regierungsbüro bereits die Genehmigung erteilt hatte, schien es, als gebe es keine Möglichkeit mehr, die historischen Gebäude zu retten.
Doch dann gab es eine plötzliche Wendung: Aufgrund der öffentlichen Empörung intervenierte das Büro des Ministerpräsidenten und am vorletzten Samstag gab dieses eine Erklärung ab, dass Kanzleramtsminister Gergely Gulyás, der auch für die Erhaltung des kulturellen Erbes zuständig ist, den Prozess eingeleitet habe, um beide Immobilien unter Denkmalschutz zu stellen. Bis zum Abschluss der Überprüfungen seien alle baulichen Änderungen verboten. Es scheint also, als wäre die Geschichte des Wichmann-Hauses noch nicht vorbei.