Veronika Székely mit dem Instrument ihres Lebens auf dem Budapester Heldenplatz. (Foto: BZT / Nóra Halász)

Mein Budapest: Violinistin Veronika Székely

„Die ungarische Volksmusik ist so lebendig wie nie“

Im Budapester Nachtleben wird getrunken, getanzt und musiziert – doch nicht nur in Clubs und Diskotheken, sondern auch im Táncház. Hier kann man die sonst eher melancholischen Ungarn so wild und lebensfroh erleben, dass es ansteckend ist. Táncház-Anhängerin und Violinistin Veronika Székely sprach mit der Budapester Zeitung über die immer noch quicklebendigen Traditionen der Ungarn und wie sie dazu kam, die klassische Musik für die Volksmusik einzutauschen.

Veronika Székely lässt ihren von hellbraunen Haaren umrahmten Blick, in dem ein klein wenig Nostalgie liegt, über den Campus der Eötvös-Loránd-Universität (ELTE) schweifen. Hier hat sie vor ein paar Jahren ihr Studium abgeschlossen. Es war eine aufregende Zeit für sie: unter der Woche Uni und Studentenleben, am Wochenende Auftritte mit ihrer Band bei folkloristischen Konzerten und Veranstaltungen im traditionellen Táncház. Das Táncház, zu Deutsch Tanzhaus ist für die Ungarn nicht nur ein Ort, sondern zugleich Name für ein Großereignis, das bis heute fester Bestandteil des ungarischen Brauchtums ist. Im Tanzhaus wird getrunken, sich kennengelernt, und wie der Name eben schon sagt – getanzt.

Doch wie zwei Seiten einer Medaille gehören zu den über den Tanzboden wirbelnden Paaren auch Musiker, die die traditionell sehr rhythmischen Melodien der Ungarn aufspielen: „Die ungarische Volksmusik ist fürs Tanzen gedacht, nicht zum Dasitzen und Zuhören“, erklärt Veronika. Die 26-Jährige, deren Gesichtszüge so elegant und geschwungen sind, wie das Instrument das sie spielt, ist vor vielen Jahren mit ihrer Violine in die Táncház- und Volksmusikszene Ungarns eingetaucht und fühlt sich darin bis heute so wohl wie ein Fisch im Wasser.

Familientradition

„Die Volksmusik liegt bei uns in der Familie“, erzählt Veronika, „Meine Mutter ist Tänzerin und war eine der Ersten, die am Budapester Ballettinstitut eine Ausbildung in der Sparte Volkstanz erhalten hat. Mein Vater spielt wie ich die Violine und war in seiner transsilvanischen Heimat, in Kolozsvár einer der Pioniere der Táncház-Bewegung.“ Damit war es Veronika natürlich schon die Wiege gelegt, dass sie einmal Musikerin werden würde. „Bereits mit zwei oder drei Jahren saß ich bei meinem Vater auf dem Schoss, wenn er die Violine gespielt hat. Ich habe den Bogen bewegt und er hat die Fingerarbeit geleistet“, erinnert sich Veronika. Bereits kurz darauf begannen ihre Eltern, das musikalische Frühtalent ihrer Tochter zu fördern und meldeten sie für den klassischen Musikunterricht an. „Mit sieben Jahren erhielt ich dann meine erste kleine Kindervioline.“ Veronika meisterte das Instrument schnell und nahm sogar an nationalen Wettbewerben teil.

Als sie acht Jahre alt war, zogen ihre Eltern mit ihr in die USA. Trotz des Kulturschocks und der fremden Sprache schaffte es das Mädchen aus Ungarn, sich in der neuen Umgebung zu behaupten. „Ich fand einen tollen Lehrer – ein russischer Jude, der in die USA emigriert war –, er hat meiner Ausbildung sehr geholfen.“ Veronika war auf dem besten Wege, eine Karriere als klassische Musikerin einzuschlagen – eine Entscheidung, die bereits im Kindesalter getroffen werden muss und enorme Anstrengungen erfordert –, da lernte sie die Schattenseiten der musikalischen Berufung kennen: „Ich war ein verdammt viel beschäftigtes kleines Kind, jeden Tag nach der Schule hatte ich entweder Unterricht in der Violine oder in klassischer Musiktheorie. Dazu kamen Orchesterproben und Auftritte am Wochenende. Da blieb keine Zeit für Freunde und zum Spielen. Als ich 14 Jahre alt war, sagte ich meinen Eltern, dass ich von der Violine genug hatte. Ich wollte nur noch ein normaler Teenager sein.“

Knapp sechs Monate rührte der störrische Teenager sein Instrument nicht mehr an, bevor die Sehnsucht nach der Musik überhandnahm. „Wenn meine Eltern nicht daheim waren, holte ich die Violine und meine alten Notenblätter hervor und spielte. Doch wenn jemand heimkam, verstaute ich sie aus purem Trotz schnell wieder. So fing ich heimlich wieder an, Violine zu spielen“, erinnert sich Veronika. Eines Tages überraschten sie ihre Eltern aber doch. Gemeinsam überlegten sie, wie es mit der Musikkarriere der jungen Violinistin weitergehen sollte. Eine klassische Karriere schien ausweglos: „Wer es ernst meint und im Wettbewerb mit all den anderen talentierten Kindern mithalten will, muss jeden Tag fünf bis sechs Stunden üben. Ich hätte vielleicht sogar die Schule aufgeben und Heimunterricht nehmen müssen. Das wollte ich einfach nicht. Meine Mutter hatte dann die Idee, mich in Richtung Volksmusik zu orientieren“

Neu gewonnene Freiheit in der Volksmusik

Die Volksmusikszene ist laut Veronika weniger wetteifernd, freier und folgt einer weniger rigorosen Methodik. „Meine Mutter schickte mich dann auf mein erstes Musikcamp. Hier lernte ich, was es heißt, Teil dieser Kultur zu sein. Wir hatten Übungsstunden am Morgen, Übungsstunden am Nachmittag und am Abend feierten wir bis in den Morgen hinein.“ Wenn man der jungen Ungarin zuhört, dann muss man schnell jedes Vorurteil vom spießigen, ewig gestrigen Volksmusiker über Bord werfen.

„Die ungarische Volksmusik ist heute so lebendig wie nie zuvor und sie ist in Bewegung.“ (Foto: BZT / Nóra Halász)

Die Volksmusik und vor allem die Táncház-Bewegung ist Ungarns ureigene Art richtig auf den Putz zu hauen. Sie ist aber auch ein sehr komplexer Teil des ungarischen Kulturgutes: „Touristen sehen meist nur, dass dort bunte Kostüme getragen und ähnlich klingende folkloristische Melodien gespielt werden. Doch sowohl die Tanz- als auch die Musiktraditionen sind so vielfältig. Jede Region, zum Teil sogar jedes einzelne Dorf in Ungarn pflegt seine ganz eigene Version“, erklärt Veronika. Auch die Instrumentation, erklärt sie, ändere sich von Region zu Region. Während im heutigen Ungarn zu einer klassischen Volksmusikband eine Violine für die Melodie, eine Viola für den Klanghintergrund und für den Rhythmus ein Kontrabass gehört – „wenn das Budget stimmt, holt man sich noch ein Cimbalom (ein mit Saiten bespanntes Brett, das mit Schlägeln bespielt wird)“ –, sorgt in Transsilvanien auch eine Art viersaitiges Schlagcello, der sogenannte „ütőgardon“ für mehr Rhythmus.

Einzigartige Kulturtradition

„Die ungarische Volksmusik klingt im Vergleich zur slowakischen Volksmusik, die ähnlich ist, sehr roh und weniger kultiviert. Besonders in den Teilen des Landes, wo das Wetter und die Natur rau sind und die Menschen hart arbeiten mussten. Die Volksmusik spiegelt die Lebensweise dieser Menschen wieder, das ist es, was sie so ausdrucksstark und kraftvoll macht. Es gibt jedoch auch Regionen, deren Bewohner reicher waren und deren Musiker daher klassisch ausgebildet waren, man hört dies heute noch an der komplexen Ornamentierung ihrer Lieder. In anderen Regionen hört man den Einfluss der historischen Verbundenheit zu Österreich und hier und da sogar arabisch klingende Elemente aus der Zeit der türkischen Besatzung“, erklärt die Musikerin.

Was Ungarn heute unter Volksmusik verstehen, hat Wurzeln, die sich durch alle Epochen der ungarischen Geschichte ziehen. Bis noch vor hundert Jahren hat sich dieses Genre immer weiterentwickelt, „doch was wir heute spielen, ist in der Zeit stehen geblieben. Wir bewahren hauptsächlich einen Stil, der sich im 19. und 20. Jahrhundert herausgebildet hat“. Heute streiten sich die Experten innerhalb der Szene, wie sehr man alte Strukturen erhalten oder inwieweit man sie als organisches Wesen betrachten soll. „Ich denke, die ungarische Volksmusik ist heute so lebendig wie nie und sie ist in Veränderung“, positioniert sich Veronika.

Táncház liegt im Trend

Obwohl die Volksmusik und der Volkstanz noch vor 50 oder 60 Jahren, als viele Menschen vom Land in die Stadt zogen und dabei viele ihrer Traditionen ablegten, in der Krise war, ist dieser Teil des ungarischen Kulturlebens heute so beliebt wie nie: „In Budapest waren es bis vor wenigen Jahrzehnten nur wenige Hundert Menschen, die im Táncház aktiv waren, heute ist die Bewegung nicht mehr zu überschauen und wächst beständig. Es gibt viele staatlich geförderte Programme, vor sechs Jahren hat die Ungarische Musikakademie einen Studiengang in Volksmusik eingerichtet. Sogar in Kindergärten und vielen Schulen wurde Volkstanz und -Musik in den Lehrplan aufgenommen. Auch in den Dörfern besinnt man sich wieder auf die alten Traditionen und lernt die eigenen Tänze und Melodien wieder neu schätzen.“

In der ungarischen Hauptstadt gehören Táncház und die mehr auf den musikalischen Teil ausgerichtete „Folk-kocsma“ (deutsch Folk-Kneipe) fest zum Nachtleben dazu. Auch Veronika, spielt mit ihrer eigenen Band „Felvonó“, die sie schon vor über zehn Jahren gegründet hat, regelmäßig in einschlägigen Veranstaltungsorten wie dem Rácskert oder dem Fonó Budai Zeneház auf. Sie sind recht erfolgreich und hatten bereits in der Schweiz und anderen Ländern Europas große Auftritte, auch auf zahlreichen CDs sind sie zu hören. Als „Postergirl“ war Veronika mit ihrer Violine sogar schon auf einer großen Plakatkampagne des Hagyományok háza (deutsch: Haus der Traditionen) in Budapest zu sehen.

Auf Mission in Nordamerika

Es sind Veronikas letzte Tage in Budapest. Bald geht sie für neun Monate in die Vereinigten Staaten nach New Brunswick im Bundesstaat New Jersey. Hier leben viele Ungarn zum Teil bereits in zweiter, dritter oder vierter Generation, es gibt ungarische Kirchen, eine Schule und ein Kulturzentrum. Veronika wird als Stipendiatin des nach dem ungarischen Forschungsreisenden Sándor Kőrösi Csoma benannten Austauschprogrammes entsendet, um dieser ungarischstämmigen Gemeinschaft beim Erhalt ihrer kulturellen Wurzeln und der Pflege ihres Kulturgutes zu helfen. Außer in der Schule und bei den ungarischen Pfadfindern auszuhelfen, wird es für Veronika auch dazugehören, den Kindern und jungen Menschen die ungarische Volksmusik und die Volkstanztradition näher zu bringen. „Ich werde all mein Wissen und meine Erfahrung, die ich in meinen Jahren in der Volksmusikszene in Ungarn erworben habe, nehmen und versuchen, ihnen davon so viel wie möglich mitzugeben“, erzählt Veronika, die sich schon riesig über die Chance freut, auszuhelfen und in das Land zurückzukehren, das für ein paar Jahre auch ihre Heimat war.

Spießig geht anders: Die Volksmusik und vor allem die Táncház-Bewegung ist Ungarns ureigene Art, mal so richtig auf den Putz zu hauen. (Foto: BZT / Nóra Halász)

Tête-à-tête mit ungarischem Brauchtum

Wer sich vor Ort von der mitreißenden Wirkung der ungarischen Volksmusik oder des ungarischen Táncház überzeugen möchte, der kann sich auf folkradio.hu über anstehende Veranstaltungen informieren.

Ansonsten hier ein paar Empfehlungen:

Rácskert
Budapest, VII. Bezirk, Dob utca 40
Jeden Freitag wird zur „Erdőfű folkkocsma“ aufgespielt.

Pótkulcs
Budapest, VI. Bezirk, Csengery utca 65/b
Jeden Dienstag spielt eine ungarische Folkband in dieser kleinen Ruinenbar.

Fonó Budai Zeneház
Budapest, XI. Bezirk, Sztregova utca 3
Jeden Mittwoch wird hier das Tanzbein geschwungen.

Aranytíz Kultúrház
Budapest, V. Bezirk, Arany János utca 10
Jeden Samstag können hier Jung und Alt ungarische Tänze lernen.

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