Das Orbán-Memorandum
Startschuss für die Richtungsdebatte der EVP
Dieser Artikel ist Teil unseres Bezahl-Angebots BZ+
Wenn Sie ein Abo von BZ+ abschließen, dann erhalten Sie innerhalb von 12 Stunden einen Benutzernamen und ein Passwort, mit denen Sie sich einmalig einloggen. Danach können Sie alle Artikel von BZ+ lesen. Außerdem erhalten Sie Zugang zu einigen speziellen, sich ständig erweiternden Angeboten für unsere Abonnenten.
Am 18. Februar veröffentlichte Familienstaatssekretärin Katalin Novák ein Positionspapier zur Lage der Europäischen Volkspartei (EVP) – auf Twitter, man muss mit der Zeit gehen. Sie nannte es medienwirksam „das Orbán-Memorandum“ – ein Brief des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán an die EVP-Führung.
Zwei Mal „drei Weise“
Frau Novák ist Vizepräsidentin der Regierungspartei Fidesz und wurde als solche im vergangenen Jahr mit der Aufgabe betraut, im Konflikt mit der EVP Ungarns Verteidigung zu leiten. Als die EVP im März 2019 die Mitgliedschaft des Fidesz suspendierte und „drei Weise“ bestimmte, um zu prüfen, ob die Haltung der Regierungspartei noch mit den „Werten“ der EVP zu vereinbaren sei, bestellte auch der Fidesz umgekehrt „drei Weise“, um zu prüfen, ob die Haltung der EVP noch mit den christdemokratischen Werten zu vereinbaren sei. Wenn nicht, so hieß es, werde man austreten.
Geführt wird dieses Team von Frau Novák. Kein Wunder also, dass sie es war, die den Orbán-Brief öffentlich vorstellte.
Die „Weisen“ hüben und drüben wollten jeweils einen Bericht über ihre Befunde veröffentlichen. In gewissem Sinne darf das „Memorandum“ wohl als der EVP-Bericht der ungarischen Seite gelten.
Die EVP hat keinen. Der Termin für den Bericht von ihren „drei Weisen“ war zuerst Oktober 2019, dann plötzlich Februar, weil man „nicht fertig“ sei. Am 20. Januar erschienen die „Weisen“ dann bei EVP-Chef Donald Tusk und „hatten den Bericht dabei“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung vorsichtig formulierte.
Denn um diesen Bericht wurde vieles gesagt und geschrieben, aber nichts, worauf man sich verlassen könnte. Er liege „auf Tusks Tisch“, hieß es in den Medien, und er selbst schien das nach dem Treffen mit den „Weisen“ zu bestätigen: Er werde seine „Einschätzung des Berichts“ auf dem nächsten EVP-Treffen vorlegen, twitterte er am 20. Januar.
Zehn Tage später hieß es dann jedoch, er habe lediglich einen „mündlichen“ Bericht erhalten, auf dessen Grundlage die Suspension der Fidesz-Mitgliedschaft ohne jegliche Debatte oder Diskussion über den heiß erwarteten Bericht verlängert wurde.
Geheimbericht?
Die drei Weisen – Österreichs Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der frühere EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering und als Kopf der Gruppe der frühere belgische Ministerpräsident Herman van Rompuy – sind allesamt das, was man gemeinhin „elder Statesmen“ nennt. Also ernsthafte Leute, die ihre Aufgabe sicher nicht auf die leichte Schulter nahmen. Es darf als ausgeschlossen gelten, dass sie gar keinen schriftlichen Bericht anfertigten, und man darf wohl auch davon ausgehen, dass sie ihn Tusk ordnungsgemäß überreichten, und dass er ihn gründlich las. Nur dass nichts davon an die Öffentlichkeit gelangte – Transparenz sieht anders aus. Der Fidesz, die Partei um die es in dem Bericht und in dem EVP-Verfahren geht, erhielt keine Kopie.
Der eigentliche Grund für all dies ist Ratlosigkeit. Die EVP-Granden kamen auf keinen gemeinsamen Nenner darüber, wie die Lage in Ungarn überhaupt zu charakterisieren sei, und wie man darauf reagieren sollte. Auch in der EVP selbst dürfte Tusk erkannt haben, dass eine inhaltliche Debatte und eine Abstimmung für die Parteienfamilie katastrophale Folgen hätten. Es würde sie so oder so zerreißen. Ein schriftlicher Bericht hätte belegen müssen, wo die Fidesz-Regierung sich wesentlich von anderen konservativen Regierungen unterscheidet, und in der Schriftform hätte das inhaltliche Gegenargumente zur Folge gehabt, die man hätte entkräften müssen.
Eng mit dem EVP-Verfahren verflochten ist das vom Europäischen Parlament angestoßene Artikel 7-Verfahren gegen Ungarn, wo angeblich demokratische Grundwerte in Gefahr seien. Auch da geht es weder voran noch zurück, auch da ist die ganze Diskussion ein Stein im Schuh aller Betroffenen. Aus Berlin – wo Orbán am 10. Februar zu Besuch war – stammt ein eleganter Vorschlag, wie beides zu lösen sei, und das führte zum jetzt veröffentlichten “Orbán-Memorandum”.
Verpflichtung auf einen Werte-Katalog
Die EU will bekanntlich einen neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus einführen, der nicht nur für einzelne Länder bei Bedarf, sondern für alle Mitgliedsländer ein permanentes „Monitoring“ in Sachen Rechtsstaatlichkeit vorsieht. Parallel dazu könnte man das Artikel 7-Verfahren abschließen, und Ungarns Rechtsstaatlichkeit fortan in diesem neuen Rahmen beurteilen. Für die EVP, deren stärkste Mitgliedspartei die deutsche CDU ist, käme eine ähnliche Lösung in Frage: Alle Mitglieder müssten einen Werte-Katalog verbindlich unterschreiben und sich danach daran messen lassen. Beide Lösungen haben den Vorteil, politische Instrumentalisierung gegen einzelne Mitglieder zu erschweren, und die jetzigen Verfahren, die sowohl die EU als auch die EVP politisch lähmen, aufzulösen.
In diesem Sinne soll im nächsten Jahr ein „Werte-Kongress“ der EVP stattfinden. Das Orbán-Memorandum ist das erste Positionspapier einer Mitgliedspartei zum Thema dieser Werte – was ist „christdemokratisch“?
Taktisch ist es ganz unabhängig vom Inhalt des Papiers ein doppelter Punktsieg für Orbán. Nicht nur ist der Fidesz die erste EVP-Partei, die sich ein intellektuelles Fundament gibt für die kommende Richtungsdebatte. Das Memorandum ist gewissermaßen auch der ungarische „Weisen“-Bericht zu der Frage, wie es die EVP mit den christdemokratischen Werten hält. Die EVP hat einen Nicht-Bericht, über den man inhaltlich nicht reden kann, weil man ihn nicht lesen kann. Der Fidesz hat ein klares Positionspapier, über das man diskutieren kann und soll. Er tritt damit auf als eine Partei, in der Dinge Struktur haben und funktionieren. Die EVP wirkt hingegen in ihrem Vorgehen gegenüber dem Fidesz ungeordnet und chaotisch.
Was ist christdemokratisch?
Orbán nennt Eckpunkte, die vor allem den Positionen der deutschen CDU vor 15 Jahren entsprachen, und kommt zu dem Schluss, dass diese Werte heute so nicht mehr von der EVP vertreten werden. Sie habe damit ihren Wesenskern verloren und sei zum Niedergang verurteilt, wenn sie das Ruder nicht herumreiße.
Im „Sturm der europäischen Debatten“, schrieb Orbán, sei die EVP immer „mutig und standfest“ geblieben. Das sei aber nicht länger der Fall.
In ihrer Haltung sei die EVP immer „prodemokratisch, antikommunistisch, marktfreundlich, antimarxistisch” gewesen, habe die Nation als entscheidenden Bezugspunkt respektiert, und sei für eine EU auf dieser Grundlage eingetreten. Sie sei christlich inspiriert gewesen, und habe sich für das christliche Familienmodell und für die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau eingesetzt. All das habe sie prinzipientreu „gegen den Druck ihrer Gegner, gegen den Zeitgeist und die mehrheitlich linksliberalen Medien vertreten“.
Mit diesen Positionen habe sie versucht, die Werte der Gesellschaft zu formen. Als Folge ihres klaren Profils habe sie im Jahr 2011 16 Regierungschefs in den 27 Ländern der Union gestellt, und 271 Abgeordnete im Europaparlament. Aber jetzt sei alles anders. Die EVP habe nur noch neun Regierungschefs, 187 Abgeordnete, und nur in zwei Ländern könne sie ohne Koalitionspartner regieren. Das war wohl ein zarter Hinweis darauf, dass Ungarn eines der letzten Länder mit einer stabilen EVP-Führung ist – jene von Viktor Orbán.
Statt konsequent gegen Marxismus aufzutreten, rügte Orbán, feiere man heute bei der EVP Fidel Castro und Karl Marx. Statt das „rheinische Modell“ zu vertreten (also die Werte von Konrad Adenauer), fühle sich die EVP heute hingezogen zu „egalitären, sozialistischen Theorien“ und traue sich nicht mehr, christliche Werte öffentlich und laut zu verteidigen. Statt für das klassische Familienmodell einzutreten, sei man der Gender-Ideologie verfallen. Statt die Familien zu stärken, wolle man die demographischen Probleme Europas durch Migration lösen.
Die EVP habe aufgehört, gegenüber ihren Rivalen eine erkennbare, attraktive Alternative darzustellen, und mache sich stattdessen deren Argumente und Ansichten zu eigen. Statt für ihre ursprünglichen Werte einzutreten, scheue die EVP davor zurück, den Kampf gegen „die linksliberalen intellektuellen Kräfte“ aufzunehmen, und „gegen die Medien, die diese beeinflussen und kontrollieren.” Für die Wähler sei die EVP nicht mehr von linken und liberalen Parteien zu unterscheiden.
Als besonderen Seitenhieb bezüglich des Konflikts zwischen der EVP und dem Fidesz schrieb Orbán, die EVP habe „ihre inneren Konflikte offengelegt“. Tatsächlich ist das etwas, was Parteien immer schadet. Insofern bedürfe es dringend einer Grundsatzdebatte über die Werte der EVP, schrieb Orbán. Er empfahl, wieder verstärkt die Kooperation mit „christlich-rechten“ Kräften anzustreben.
Der Startschuss für die Richtungsdebatte der EVP ist damit erklungen, und Orbán ist seinen Kritikern damit vom Tempo her einen Schritt voraus. Tempo ist das, was beim Schach Spiele entscheidet – wer als erster zieht, und danach keine Fehler macht, gewinnt normalerweise.
Hier aber geht es nicht um Schach, sondern darum, dass sich nicht nur die Werte der EVP verändert haben. Die Gesellschaften selbst haben sich verändert. „Christlich“ als Werbeslogan funktioniert in Ländern wie Frankreich oder Deutschland nicht mehr. Ob Orbán die EVP in einer postchristlichen Gesellschaft zu einer Art politischen Reconquista, zu einer Wiedereroberung des Kontinents gegen die modernen Heiden bewegen kann, ist insofern eher unwahrscheinlich.