Interview mit der Historikerin Mária Schmidt
Extreme Freiheitsdefizite im Westen
Die Direktorin des Terrorhausmuseums war Gast einer Sendung des staatlichen Kossuth-Radios, die einmal monatlich von Kulturminister János Csák moderiert wird. Der Ausgangspunkt des Ministers lautete, dass der Westen sein Gleichgewicht verloren habe: Die Freiheit des Einzelnen stehe heute über der Ordnung und Freiheit der Gemeinschaft.
Mehrere Bastionen sind längst gefallen
Die Historikerin erinnerte an die kommunistischen Jahrzehnte, in denen sich die Ungarn nach den Freiheitsrechten sehnten, die im Westen gegeben waren. „Und dann gewannen wir unsere Freiheit zurück, während der Westen die seine vollkommen verlor.“ Heute würden im Westen die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die akademische Freiheit beschränkt.
„Im Wesentlichen also sämtliche Freiheitsrechte, die es braucht, um die gemeinsamen Angelegenheiten frei miteinander zu besprechen “, resümierte Schmidt. „Die Freiheitsdefizite nehmen allmählich extreme Ausmaße an, die Bastionen des akademischen Lebens und der Medien sind im Westen längst gefallen.“
„Sie hören gar nicht hin“
Als ein Beispiel der verschwundenen Debattenkultur führte sie den Ukraine-Krieg an, in dem sich die westliche Elite keiner Debatte stellen will. Ministerpräsident Viktor Orbán habe wiederholt im EU-Rat argumentiert, man müsse sich einen Plan B zurechtlegen. „Sie hören ihn gar nicht erst an, verstehen nicht, was es mit dem Plan B auf sich hat, weil sie in allen Dingen nur noch eine einzige Lösung favorisieren.“
Alibipolitiker und Egomanen
Die Wurzel all dieser Probleme sieht die Historikerin in der Abkehr vom Glauben. Heute bestimmten neue „Heiligtümer“ wie der „heilige Konsum“ und der Leistungsdruck ein Leben in Hektik, in dem oberflächliche Influencer die Themen vorgeben, während der wahre Sinn des Lebens, die Familie, in den Hintergrund gedrängt wird. „Gott zu verleugnen ging mit der Aufwertung des Individuums einher, das Ego beherrscht alles, jeder meint, die Welt handle nur noch von ihm.“
Zugleich hört die westliche Elite nicht länger die Stimme der einfachen Menschen, ja bestreitet in ihrem falschen Selbstbild sogar, dass sie die Elite sei. Mária Schmidt sieht in den Eliten der USA und Westeuropas auf der einen Seite immer mehr „graue, charakterlose Alibipolitiker ohne Ideen und Visionen“, die Angst haben, irgendwas Falsches von sich zu geben. Auf der anderen Seite mehren sich Politiker auf dem Egotrip, die verächtlich auf die Menschen herabblicken, deren Probleme sie nicht teilen.